Naokos Laecheln
Dann habe ich das Essen fertig.«
Ich bedankte mich und steckte die Zeichnung in die Tasche. Allmählich wurde es Zeit für mich, zur Uni zurückzufahren, denn mein Deutschkurs fing um zwei Uhr an. Midori hatte auch noch etwas zu erledigen und stieg in Yotsuya in eine Bahn.
Am Sonntagmorgen stand ich um neun auf, rasierte mich, wusch meine Wäsche und hängte sie auf dem Dach auf. Es war herrliches Wetter. Erster Herbstgeruch lag in der Luft, Libellen schwirrten im Hof und wurden von den Kindern aus der Nachbarschaft mit Netzen verfolgt. Da es windstill war, hing die Flagge schlaff am Mast. Ich zog mir ein frischgebügeltes Hemd an und ging zur Straßenbahn. An einem Sonntagmorgen ist ein Studentenviertel wie ausgestorben, die Straßen leer, die Geschäfte geschlossen, und alle Geräusche klingen viel lauter als sonst. Ein Mädchen in Holzsandalen klapperte über den Asphalt, und neben dem Wartehäuschen der Haltestelle warfen ein paar Kinder mit Steinen auf Dosen. Ein Blumengeschäft war geöffnet, und ich kaufte ein paar Narzissen. Sonderbar, Narzissen im Herbst. Aber ich hatte sie schon immer besonders gemocht.
An diesem Sonntagmorgen saßen nur drei ältere Frauen in der Straßenbahn. Als ich einstieg, wandten alle drei ihren Blick mir und meinen Narzissen zu. Eine von ihnen lächelte mich an, und ich lächelte zurück. Ich setzte mich in die letzte Bank und betrachtete die alten Häuser, die so nah an meinem Fenster vorbeiglitten, daß die Straßenbahn fast die überhängenden Dachtraufen berührte. Auf einem Wäschedeck standen zehn Tomatenstauden in Töpfen, und daneben sonnte sich eine schwarze Katze. Im Hof eines anderen Hauses pustete ein kleines Kind Seifenblasen. Von irgendwoher drang die Melodie eines Liedes von Ayumi Ishida bis zu mir, und sogar der Duft eines Currygerichts stieg mir in die Nase. Die Straßenbahn schlängelte sich durch die Hintergassen, noch ein paar Fahrgäste stiegen unterwegs zu, doch die drei alten Damen steckten weiter die Köpfe zusammen, ohne aufzublicken, ganz in ihr Gespräch vertieft.
Ich stieg in der Nähe des Bahnhofs Ōtsuka aus und folgte gemäß Midoris Skizze einer breiten Straße, an der es nicht viel zu sehen gab. Keiner der Läden dort schien so recht zu florieren. Die Häuser waren alt, ihr Inneres wirkte düster, die Schrift auf den Schildern war verblichen. Nach Alter und Stil der Gebäude zu schließen, war das Viertel im Krieg nicht zerbombt worden, und ganze Häuserblöcke hatten sich erhalten. Es gab auch ein paar Neubauten, aber die meisten davon waren teilweise renoviert oder repariert worden und sahen durch diese Ergänzungen noch schäbiger aus als die ganz alten. Die desolate Atmosphäre der Straße ließ darauf schließen, daß viele der ehemaligen Bewohner in die Vorstädte gezogen waren, um der abgasverpesteten Luft, den hohen Mieten und dem Verkehrslärm zu entfliehen. Übriggeblieben waren Billigwohnungen, Betriebsunterkünfte und Läden, deren Besitzern das Kapital für einen Umzug fehlte, oder sture Alteingesessene, die ihr Grundstück nie verlassen würden.
Nach zehn Minuten kam ich an eine Kreuzung mit einer Tankstelle und bog nach rechts in eine kleine Einkaufsstraße ein, in deren Mitte ich schon von weitem das Schild ›Buchhandlung Kobayashi‹ entdeckte. Der Laden war wirklich nicht besonders groß, aber auch nicht so klein, wie ich ihn mir nach Midoris Beschreibung vorgestellt hatte – eben eine typische Stadtteilbuchhandlung. Als Kind hatte ich meine heißersehnten Fortsetzungshefte in genau so einem Laden gekauft, und als ich nun vor der Buchhandlung Kobayashi stand, ergriff mich Wehmut. Wahrscheinlich gibt es in jedem Viertel einen solchen Buchladen.
Der Rolladen, auf dem »Bunshun – hier jede Woche Donnerstag« stand, war ganz heruntergelassen. Es war erst viertel vor zwölf, aber ich wollte nicht mit einem Strauß Narzissen durch die Gegend ziehen, um mir die Zeit zu vertreiben, also drückte ich die Klingel neben dem Rolladen, trat ein paar Schritte zurück und wartete. Fünfzehn Sekunden vergingen ohne ein Lebenszeichen. Ich überlegte, ob ich noch einmal klingeln sollte, aber da hörte ich, wie über mir ein Fenster geöffnet wurde, und sah hinauf. Midori steckte den Kopf aus dem Fenster und winkte.
»Heb den Rolladen hoch und komm rein«, rief sie.
»Entschuldige, ich bin ein bißchen zu früh«, rief ich zurück.
»Macht doch nichts. Komm rauf in den ersten Stock. Ich habe noch zu tun.« Damit schloß sie das Fenster
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