Naokos Laecheln
ich daran, daß auch das Kobayashi-Haus in Stücke fliegen würde, wenn die Tankstelle explodierte. Erschöpft von ihrem Vortrag, legte Midori die Gitarre ab und schmiegte sich wie eine Katze im Sonnenschein behaglich an meine Schulter.
»Wie hat dir mein Lied gefallen?« fragte sie.
»Es war ungewöhnlich und originell, ein guter Ausdruck deiner Persönlichkeit«, antwortete ich diplomatisch.
»Danke – das Thema ist, daß ich nichts habe.«
»Das habe ich ungefähr mitgekriegt.«
»Weißt du, als meine Mutter gestorben ist…« Midori sprach in meine Richtung.
»Hm?«
»War ich überhaupt nicht traurig.«
»Aha.«
»Auch als mein Vater fortgegangen ist, war ich nicht traurig.«
»Wirklich?«
»Ja. Findest du mich gefühllos? Zu kaltherzig?«
»Aber du hattest sicher Gründe dafür.«
»Das ist wahr. Alle möglichen Gründe. Es war sehr kompliziert bei uns. Eigentlich habe ich immer gedacht, ich würde sehr traurig sein, wenn meine Eltern nicht mehr da wären oder tot. Aber so war es nicht. Ich hatte solche Gefühle überhaupt nicht, ich war nicht traurig, nicht einsam, es war nicht schwer für mich. Ich denke kaum an sie. Nur manchmal träume ich von ihnen. In diesen Träumen funkelt mich meine Mutter aus dem Dunkeln an und wirft mir vor, ich hätte ihr den Tod gewünscht. Aber das stimmt nicht. Ich bin nur nicht besonders traurig. Ehrlich gesagt, ich habe nicht eine einzige Träne vergossen. Als Kind habe ich einmal eine ganze Nacht geheult, nur weil meine Katze gestorben war.«
Warum raucht das da so? dachte ich. Man sah keine Flammen mehr, und das Feuer schien sich auch nicht auszubreiten. Nur noch die Rauchsäule stieg auf. Ich fragte mich, was das Feuer so lange in Gang gehalten hatte.
»Aber das ist nicht allein meine Schuld. Vielleicht bin ich ein bißchen kühl. Das gebe ich zu. Aber wenn sie – mein Vater und meine Mutter – mich ein bißchen mehr geliebt hätten, würde ich jetzt anders empfinden. Stärker trauern, oder?« fuhr Midori fort.
»Hast du das Gefühl, nicht genügend geliebt worden zu sein?«
Sie legte den Kopf schief und sah mich an. Dann nickte sie heftig. »Irgendwo zwischen ›nicht genug‹ und ›überhaupt nicht‹. Ich war immer ausgehungert nach Liebe. Wenigstens ein einziges Mal wollte ich richtig geliebt werden. So sehr, daß ich endlich einmal satt wäre. Nur ein einziges Mal hätte schon gereicht. Aber nicht mal dieses eine Mal haben sie mir gegönnt. Wenn ich mich anschmiegen und um etwas bitten wollte, kam immer gleich das Gemecker über die Kosten. Unweigerlich. Also beschloß ich, jemanden zu finden, der mich dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr hundertprozentig und bedingungslos lieben würde. Damals war ich erst in der fünften oder sechsten Klasse, aber mein Entschluß stand fest.«
»Erstaunlich«, sagte ich beeindruckt. »Und hatte deine Suche Erfolg?«
»Es ist schwierig.« Nachdenklich beobachtete sie eine Weile den Rauch. »Vielleicht suche ich nach Vollkommenheit, weil ich so lange gewartet habe. Deshalb ist es so schwierig.«
»Die vollkommene Liebe?«
»Nein, das weiß sogar ich, daß die nicht existiert. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der alles für mich tut. Ich will vollkommen egoistisch sein können. Zum Beispiel: ich sage, ich möchte Erdbeertorte essen, und du rennst sofort los, um welche für mich zu besorgen. Dann kommst du ganz außer Atem mit der Torte angehetzt, aber jetzt will ich sie nicht mehr und schmeiße sie aus dem Fenster. S o in etwa.«
»Das hat doch nicht viel mit Liebe zu tun, oder?« sagte ich ziemlich bestürzt.
»Doch. Du verstehst das nur nicht. Manchmal braucht ein Mädchen so etwas.«
»Wie Erdbeertorte aus dem Fenster zu schmeißen?«
»Genau. Außerdem soll der Mann dann noch zu mir sagen: ›Midori, ich verstehe dich. Ich hätte ahnen müssen, daß du keine Erdbeertorte mehr essen willst. Ich bin ein Idiot und so uneinfühlsam wie Eselsscheiße. Laß mich dir zur Wiedergutmachung etwas anderes holen. Was würdest du gern essen? Mousse au Chocolat oder lieber Käsekuchen?‹«
»Und dann?«
»Dann würde ich ihn dafür lieben.«
»Klingt ziemlich verrückt für mich.«
»Aber für mich ist das Liebe. Natürlich versteht das niemand.« Midori stupste mit dem Kopf gegen meine Schulter. »Für manche Menschen hängt die Liebe von Kleinigkeiten oder Banalitäten ab. Ohne sie läuft überhaupt nichts.«
»Ich bin noch nie einem Mädchen mit solchen Ansichten begegnet«, sagte ich.
»Das sagen die
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