Naokos Laecheln
nichts Passendes ein, und so starrte ich Midori nur mit offenem Mund an.
»Weißt du, was er zu uns gesagt hat, als meine Mutter gestorben ist? Daß er wünschte, wir beide wären an Stelle unserer Mutter gestorben. Das hat er gesagt. Wir waren so entsetzt, daß wir kein Wort rausbrachten. Wie findest du das? So was kann man doch nicht sagen. Ja, gut, er hat seine geliebte Frau verloren, und ich verstehe seinen Schmerz, seinen Kummer, seine Trauer. Er tut mir sehr leid. Aber er kann doch nicht zu seinen eigenen Töchtern sagen, daß sie an Stelle ihrer Mutter hätten sterben sollen. Das ist doch zu grausam, oder?«
»Ja, schon.«
»Damit hat er uns sehr verletzt«, sagte sie kopfschüttelnd. »Jedenfalls sind alle in unserer Familie ein bißchen daneben. Jeder auf seine Weise.«
»Scheint so«, entgegnete ich.
»Aber es ist doch wunderbar, wenn zwei Menschen sich lieben, findest du nicht? Wenn man seine Frau so liebt, daß man seine Töchter für sie opfern würde.«
»Wenn man es so sieht… Kann sein.«
»Und dann verschwindet er nach Uruguay und läßt uns hier sitzen.«
Schweigend trocknete ich weiter ab. Als alles abgetrocknet war, räumte Midori das Geschirr ein.
»Und habt ihr Nachricht von eurem Vater?« fragte ich.
»Nur eine Ansichtskarte. Die kam im März an. Aber etwas Genaueres hat er nicht geschrieben. Nur, daß es heiß ist und das Obst nicht so gut, wie er es erwartet hatte. Solches Zeug eben. Das ist kein Witz. Eine blöde Karte mit einem Esel drauf hat er uns geschickt. Er ist verrückt geworden. Er hat nicht mal geschrieben, ob er seinen Freund gefunden hat. Am Ende schreibt er, meine Schwester und ich sollen nachkommen, wenn er sich ein bißchen eingerichtet hat, aber seitdem kein Wort mehr. Auf unsere Briefe antwortet er nicht.«
»Was würdest du tun, wenn dein Vater sagt, du sollst nach Uruguay kommen?«
»Ich würde mal hinfliegen und mich umsehen. Bestimmt wäre es interessant. Meine Schwester sagt, sie würde sich weigern. Meine Schwester verabscheut jeden Schmutz.«
»Ist es in Uruguay schmutzig?«
»Keine Ahnung, aber sie behauptet, die Straßen wären voller Eselskacke und Fliegen. Keine Toiletten und kein fließendes Wasser, und überall wimmelt es von Eidechsen und Skorpionen. Sie hat das wohl in einem Film gesehen. Meine Schwester haßt Insekten. Am liebsten fährt meine Schwester in einem schicken Auto durch eine hübsche Gegend.«
»Aha.«
»Warum soll Uruguay schlecht sein? Ich würde hinfahren.«
»Und wer kümmert sich jetzt um das Geschäft?« fragte ich.
»Meine Schwester, aber es stinkt ihr. Ein Onkel von uns, der hier in der Nähe wohnt, hilft täglich aus und übernimmt auch die Auslieferung. Ich helfe mit, wenn ich Zeit habe. Die Arbeit in einem Buchladen ist nicht besonders schwer, also kommen wir zurecht, aber wenn wir es nicht mehr schaffen, verkaufen wir den Laden einfach.«
»Hast du deinen Vater gern?«
Midori schüttelte den Kopf. »Es geht.«
»Warum willst du ihm dann nach Uruguay folgen?«
»Weil ich an ihn glaube.«
»Du glaubst an ihn?«
»Ich liebe ihn nicht besonders, aber ich glaube an meinen Vater. Ich glaube an einen Mann, der sein Haus, seine Kinder, seine Arbeit aufgibt, um nach Uruguay zu gehen, weil er den Tod seiner Frau nicht verwinden kann. Kannst du das verstehen?«
Ich seufzte. »Einerseits verstehe ich es, andererseits auch wieder nicht.«
Midori lachte amüsiert und klopfte mir auf den Rücken. »Egal, spielt eigentlich auch keine Rolle.«
An jenem Sonntagnachmittag passierte eine Menge. Es war ein seltsamer Tag. In der Nähe von Midoris Haus brach ein Feuer aus, und als wir auf die Wäscheterrasse im zweiten Stock hinaufgingen, um es zu beobachten, kam es irgendwie zufällig dazu, daß wir uns küßten. Das hört sich albern an, aber so war es.
Wir waren gerade dabei, nach dem Essen einen Kaffee zu trinken und uns über die Universität zu unterhalten, als wir die Sirenen eines Feuerwehrwagens hörten. Sie wurden immer lauter, und es schienen auch mehr zu werden. Das Getrappel rennender Menschen und laute Rufe waren von der Straße zu hören. Nachdem Midori aus einem anderen Fenster auf die Straße hinausgesehen hatte, bat sie mich, in der Küche zu warten. Irgendwo sei ein Feuer ausgebrochen, sagte sie, und ich hörte, wie sie die Treppe nach oben rannte.
Während ich allein meinen Kaffee weitertrank, versuchte ich mich zu erinnern, wo Uruguay liegt. Dort liegt Brasilien, da Venezuela, hier Kolumbien, aber wo Uruguay
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