Naokos Laecheln
wir einen sanften Abhang, an dem in regelmäßigen Abständen eine Reihe einstöckiger Holzhäuser standen, die irgendwie unheimlich auf mich wirkten. Warum sie mir unheimlich erschienen, kann ich nicht erklären, aber so empfand ich sie zunächst. Bisweilen empfindet man etwas Ähnliches angesichts von Versuchen, Unwirkliches erfreulich abzubilden. So etwas käme dabei heraus, ging mir durch den Kopf, wenn Walt Disney aus einem Gemälde von Munch einen Zeichentrickfilm machen würde. Alle Häuser hatten die gleiche Form und Farbe; sie waren nahezu würfelförmig, exakt klappsymmetrisch und hatten breite Eingangstüren und viele Fenster. Der Weg schlängelte sich an ihnen vorbei wie ein Übungsparcours für Fahrschüler. Ordentlich gestutzte blühende Büsche standen vor jedem Haus. Kein Mensch war zu sehen, und alle Vorhänge waren zugezogen.
»Dies ist der sogenannte Sektor C, in dem die weiblichen Patienten wohnen. Also wir. Er besteht aus zehn Häusern mit je vier Einheiten. Jede Einheit ist für zwei Personen vorgesehen. Das wären insgesamt achtzig Leute, aber im Augenblick sind wir nur zweiunddreißig.«
»Sehr ruhig hier«, bemerkte ich.
»Um diese Zeit ist niemand zu Hause. Ich habe die besondere Erlaubnis, mich frei zu bewegen, aber die anderen sind mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigt. Einige treiben Sport, andere arbeiten im Garten, ein paar sind in der Gruppentherapie oder sammeln Kräuter im Wald. Jeder plant seinen Tagesablauf selbst. Mal sehen, was tut Naoko gerade? Ich glaube, sie wollte streichen oder tapezieren. Ich hab’s vergessen. Jedenfalls wird sie bis fünf Uhr zu tun haben.«
Reiko betrat das Haus, an dem »C-7« stand, stieg die Treppe am Ende des Flurs hinauf und öffnete eine unverschlossene Tür auf der rechten Seite. Dann führte sie mich durch die schlichte, aber gemütliche Wohnung, die aus vier Räumen bestand: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Obwohl zusätzliche Möbel oder dekorative Gegenstände fehlten, wirkte das Apartment keineswegs trist. Nichts daran war außergewöhnlich, aber es wirkte wie Reiko: warm und entspannend. Das Wohnzimmer war mit einer Couch, einem Tisch und einem Schaukelstuhl eher karg eingerichtet. Sowohl auf dem Wohnzimmertisch wie auch auf dem Eßtisch in der Küche standen Aschenbecher. Im Schlafzimmer gab es zwei Betten, dazwischen ein Nachttischchen mit einer Leselampe, und dort lag umgedreht ein aufgeschlagenes Taschenbuch. Die Küche war mit einer kleinen Küchenzeile und eingebautem Kühlschrank ausgestattet, so daß dort einfache Mahlzeiten zubereitet werden konnten.
»Wir haben zwar keine Badewanne, nur eine Dusche, aber es ist doch trotzdem recht komfortabel bei uns, oder? Badewannen und Waschmaschinen gehören zu den Gemeinschaftseinrichtungen«, erklärte Reiko.
»Schon fast zu komfortabel. In meinem Zimmer im Wohnheim habe ich gerade mal ein Fenster und eine Decke über dem Kopf.«
»Sie wissen nicht, wie es im Winter hier ist.« Reiko berührte meinen Rücken, um mich zum Sofa zu dirigieren, wo sie sich neben mir niederließ. »Die Winter hier sind lang und hart. Schnee, soweit das Auge reicht. Schnee und nichts als Schnee. Eine feuchte Kälte, die einem in die Knochen zieht. Täglich müssen wir im Winter Schnee schippen, aber wir machen es uns auch schön warm, hören Musik, reden oder stricken. In einer kleineren Wohnung würden wir zu eng aufeinanderhocken. Wenn Sie einmal im Winter herkommen, werden Sie das verstehen.«
Reiko seufzte tief, als stelle sie sich den langen Winter vor, und faltete die Hände über den Knien.
»Hier machen wir Ihnen Ihr Bett.« Sie klopfte auf das Sofa, auf dem wir beide saßen. »Wir schlafen im Schlafzimmer und Sie hier. Ist Ihnen das recht?«
»Ja, natürlich.«
»Gut, dann ist ja alles geregelt. Gegen fünf kommen wir zurück, bis dahin haben Naoko und ich noch zu tun. Macht es Ihnen etwas aus, hier allein zu warten?«
»Überhaupt nicht, ich kann inzwischen für meine Deutsch-Prüfung lernen.«
Als Reiko gegangen war, streckte ich mich auf dem Sofa aus und schloß die Augen. In der Stille, die mich umgab, mußte ich plötzlich an einen Motorradausflug denken, den Kizuki und ich irgendwann im Herbst unternommen hatten. Im Herbst vor wie vielen Jahren? Vor vier Jahren. Ich erinnerte mich noch ganz genau an den Geruch von Kizukis Lederjacke und das Knattern seiner roten 125er Yamaha. Wir waren ziemlich weit an der Küste entlang gefahren und kamen am Abend völlig erledigt nach
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