Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Naokos Laecheln

Naokos Laecheln

Titel: Naokos Laecheln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Scherenschnitte – ein Vogel, eine Wolke, eine Kuh, eine Katze –, alles sehr geschickt ausgeschnitten und arrangiert. Noch immer war niemand in Sicht und kein Laut zu hören. Mir war, als lebte ich mutterseelenallein in einer äußerst gepflegten Geisterstadt.
    Kurz nach fünf trudelten allmählich die Bewohnerinnen von Sektor C ein. Vom Fenster aus sah ich direkt unter mir drei Frauen vorbeigehen, deren Alter ich wegen der Hüte, die sie alle drei trugen, nicht schätzen konnte, aber aus ihren Stimmen schloß ich, daß sie nicht mehr ganz jung waren. Kaum waren sie um eine Ecke verschwunden, kamen drei weitere Frauen aus der gleichen Richtung und verschwanden um dieselbe Ecke. Abendstimmung breitete sich aus. Vom Wohnzimmerfenster aus sah ich im letzten Licht die Konturen des Waldes und der Bergkämme.
    Naoko und Reiko trafen gemeinsam um halb sechs ein. Naoko und ich begrüßten uns förmlich, als begegneten wir uns zum ersten Mal, wobei Naoko sehr verlegen wirkte. Als Reiko mein Buch sah, fragte sie nach dem Titel. Der Zauberberg von Thomas Mann, antwortete ich.
    »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, ausgerechnet dieses Buch mit hierher zu bringen?« sagte sie ein wenig vorwurfsvoll. Natürlich hatte sie nicht ganz unrecht.
    Während Reiko Kaffee für uns drei machte, berichtete ich Naoko von Sturmbandführers plötzlichem Verschwinden und dem Glühwürmchen, das er mir am letzten Tag geschenkt hatte. »Wie schade, daß er fort ist. Ich hätte so gerne noch viele Geschichten über ihn gehört«, sagte Naoko mit echtem Bedauern. Reiko wollte wissen, wer dieser Sturmbandführer sei, und ich gab einiges zum besten. Natürlich mußte auch sie laut lachen. Solange man Sturmbandführergeschichten erzählte, war die Welt von Frieden und Gelächter erfüllt.
    Gegen sechs gingen wir zum Abendessen in den Speisesaal im Hauptgebäude. Naoko und ich nahmen Bratfisch, Rohkostsalat, gekochte Gemüse, Reis und Misosuppe. Reiko begnügte sich mit einem Makkaroni-Salat und Kaffee. Während sie nach dem Essen ihre übliche Zigarette rauchte, erklärte sie verschmitzt, im Alter brauche der Körper nicht mehr so viel Nahrung.
    An den Tischen im Speisesaal saßen etwa zwanzig Leute, und es herrschte ein reges Kommen und Gehen, während wir aßen. Abgesehen vom unterschiedlichen Alter der Gäste erinnerte die Szene auf den ersten Blick an die Kantine meines Wohnheims, doch die Atmosphäre war eine ganz andere. Vor allem die einheitliche Lautstärke, in der sich die Leute unterhielten, unterschied sie von der in meinem Wohnheim. Kein Geschrei und kein Getuschel, kein lautes Gelächter. Niemand rief, mit den Händen fuchtelnd, über die Köpfe der anderen hinweg, sondern alle unterhielten sich gedämpft und in etwa gleicher Stimmlage miteinander. Man aß in Gruppen zu drei bis fünf Personen, von denen eine sprach und die anderen zuhörten, nickend und Zustimmung signalisierend. Wenn eine Person fertig war, sprach für eine Weile eine andere. Ich konnte nicht verstehen, worüber sie redeten, aber der harmonische Verlauf ihrer Gespräche erinnerte mich an das seltsame Tennisspiel, dessen Zeuge ich am frühen Nachmittag geworden war. Ich fragte mich, ob Naoko sich ebenso verhielt, wenn sie mit den anderen sprach. Komische Art, sich zu unterhalten, dachte ich, aber zugleich verspürte ich seltsamerweise ein wenig Eifersucht und fühlte mich ausgeschlossen.
    Am Tisch hinter mir erklärte ein Mann mit schütterem Haar und im weißen Kittel – anscheinend ein Arzt – einem nervösen jungen Mann mit Brille und einer Frau mittleren Alters mit einem Eichhörnchengesicht sehr ausführlich, wie sich der Zustand der Schwerelosigkeit auf die Produktion von Verdauungssäften auswirkt, oder etwas dieser Art. Der junge Mann und die Frau sagten ab und zu »aha« oder »ach, wirklich?« und hörten ihm aufmerksam zu. Mit der Zeit kamen mir Zweifel, ob der Mann mit dem schütteren Haar und dem weißen Kittel wirklich Arzt war.
    Niemand im Speisesaal beachtete mich sonderlich, niemand starrte mich an oder schien meine Anwesenheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Sie war anscheinend etwas ganz Alltägliches.
    Nur einmal wandte sich der Mann in Weiß abrupt an mich und fragte: »Wie lange haben Sie vor, hier zu bleiben?«
    »Zwei Nächte. Am Mittwoch reise ich ab«, antwortete ich.
    »Es ist ganz wunderschön hier um diese Jahreszeit, nicht wahr? Aber kommen Sie doch noch einmal im Winter, wenn alles weiß ist.«
    »Vielleicht ist Naoko ja gar

Weitere Kostenlose Bücher