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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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ich hätte ihre Entlassung autorisiert, machte sie vollkommen dicht. Sie blieb freundlich, doch reden wollte sie nicht mehr mit mir.«
    »Und wie kommen Sie darauf, daß sie mit mir reden würde?«
    »Als ich sie fragte, ob Sie sie besucht hätten, begann sie zu strahlen. Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig.« Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, konnte ihre Gereiztheit aber nicht verbergen.
    »Ich bin nicht sicher, ob Sie das richtig auslegen«, erwiderte ich. »Als ich bei ihr war, machte sie Andeutungen, daß sie überhaupt keine Therapie mehr wünsche.«
    »Großartig. Was stellt die sich nur vor? Na, was soll’s… Dummheit ist kein Grund, sie länger hierzubehalten. - Ihr Vater hat mich übrigens angerufen. Da ich offenbar nichts mehr mit ihr zu tun habe, dachte ich, ich verweise ihn an Sie.«
    »Wann war der Anruf?«
    »Heute morgen.« Sie las mir eine Telefonnummer vor. Ich schrieb mit.
    »Hat er eine Nachricht hinterlassen?«
    »Nein, nur daß Sie ihn zurückrufen sollen. Viel Glück. Wir entlassen sie heute abend.«
    Bei Lowell meldete sich eine Frauenstimme: »Ja?«
    »Mein Name ist Dr. Delaware. Ich sollte Mr. Lowell zurückrufen.«
    »Wer?«
    »Ich bin der Psychologe seiner Tochter.«
    »Ich dachte, das wäre Dr. -«
    »Embrey, ich weiß. Sie hat den Fall abgegeben.«
    »Ach so… Wenn Sie jetzt der Arzt sind, dann wird sich Mr. Lowell also mit Ihnen treffen.«
    »In welcher Sache?«
    »Wegen Lucretia, nehme ich an.«
    »Das geht nicht ohne Lucys Zustimmung.«
    »Bleiben Sie dran.«
    Nach wenigen Sekunden sagte eine sehr laute, tiefe Stimme:
    »Lowell. Und wer sind Sie?«
    »Dr. Delaware.«
    »Delaware. Der erste Staat. Hinterwald. Was sind Sie? Franko-Kanadier? Akadier? Akademiker?«
    »Was kann ich für Sie tun, Mr. Lowell?«
    »Sie können gar nichts für mich tun, aber vielleicht kann ich etwas für Sie tun. Mein Junge hat die Kleine dabei erwischt, wie sie sich vergasen wollte, natürlich wegen mir, ist ja klar. Ich bezweifle, daß sie sich geändert hat, die verklemmte kleine Heulsuse. Ein Charakter ändert sich nie, also kann ich Ihnen ein paar erleuchtende Einsichten verschaffen. Es sei denn, Sie sind einer von diesen biopsychiatrischen Frankensteinern, die glauben, Charakter wäre eine Sache von Serotonin und Dopamin.«
    »Welcher Ihrer Söhne hat Sie angerufen?«
    »Der Opiumteufel, wer sonst?«
    »Peter?«
    »Höchstselbst.«
    »Von wo hat er angerufen?«
    »Woher soll ich das wissen? Mein Mädel hat mit ihm geredet. Und versuchen Sie ja nicht, mir irgendwas anzuhängen. Wir sehen uns übermorgen, für höchstens eine Stunde und erheblich kürzer, wenn Sie mir auf den Keks gehen. Sie kommen zu mir; ich reise nicht.«
    »Es tut mir leid, aber ohne Lucys Erlaubnis kann ich nicht mit Ihnen reden.«
    »Was?« Er lachte so laut, daß ich den Hörer vom Ohr nehmen mußte. »Die Wahnsinnigen regieren das Irrenhaus? Was meinen Sie, zum Teufel?«
    »Vertraulichkeit, Mr. Lowell. Aber falls Lucy zustimmt, würde ich sehr gern mit Ihnen reden. Darf ich Sie zurückrufen?«
    »Ob Sie dürfen?« Er lachte wieder. »Na klar, aber auf eigene Gefahr! Sie dürfen sich auch einen Hamburger ans Knie nageln und einen Gartenschlauch in den Arsch stecken.«

17
    Mein erster Gedanke am nächsten Morgen war: Lucy ist draußen.
    Daß sie es eventuell ohne Hilfe versuchen wollte, bereitete mir Unbehagen, doch wenn ich sie umzustimmen versuchte, würde sie sich wahrscheinlich erst recht verweigern. Also beschloß ich, ihr bis mittags Zeit zu geben, bevor ich sie anrufen würde.
    Vorher wollte ich Milo in die Fakten einweihen, die ich von Doris Reingold bekommen hatte. Er war noch nicht in seinem Büro, also hinterließ ich eine Nachricht.
    Es war kurz nach neun. Ruth war vor über einer Stunde mit Bully weggegangen. Ich ging einkaufen, und als ich zurückkam, summte das Telefon. Milo.
    »Ich bin in Lucys Wohnung. Kannst du herkommen?«
    »Was ist mit ihr?«
    »Sie ist nicht verletzt. Komm nur schnell her, dann können wir reden.«
    Lucy wohnte in einem älteren, kleinen Apartmentkomplex mit zwei Wohnungen in jedem Stockwerk, beide von der Straße aus zugänglich. Sie hatte Wohnung Nummer 4 im Obergeschoß. Vor den Fenstern, durch die Ken sie in der Küche hatte knien sehen, waren die Vorhänge zugezogen. Der Türrahmen war um die Scharniere herum abgesplittert - sicher von Kens Rettungsaktion -, doch die Tür war verschlossen. Milos Gesicht erschien hinter einem der Fenster, und er ließ mich herein. Der Vorderteil der

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