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Narben

Narben

Titel: Narben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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mich um.
    Graydon-Jones saß mit einer Frau auf der anderen Seite des Speiseraumes. Das wenige Haar, das er noch hatte, war inzwischen eisengrau, doch das lange Gesicht, die traurigen Hundeaugen und das fliehende Kinn waren unverkennbar. Er trug einen dunklen Anzug und einen neonblauen Schlips.
    Die Frau war um die Dreißig, honigblond und gut gebaut. Sie hatten kein Essen vor sich auf dem Tisch, nur Gläser mit einer roten Flüssigkeit und Selleriestangen darin und einen Stapel Papiere.
    Ich aß und beobachtete sie, bis die Frau die Papiere zusammenpackte und ging.
    Er bestellte sich noch etwas zu trinken und zündete sich ein Zigarillo an. Ich ließ das Geld für die Rechnung auf meinem Tisch und ging zu ihm.
    »Mr. Graydon-Jones?«
    Er schaute auf, und ich wiederholte das Märchen, das ich seiner Sekretärin erzählt hatte.
    Er lächelte. »Ja, ich habe die Nachricht bekommen. Das Sanktum… Wie eigenartig.« Der englische Akzent war nicht zu verkennen.
    »Was finden Sie eigenartig?«
    »Daß es nach all den Jahren wieder zur Sprache kommt. Wie war noch Ihr Name?«
    »Sandy Del Ware.«
    »Und Sie arbeiten an einer Biographie über Lowell?«
    »Ich versuche es.«
    »Haben Sie eine Geschäftskarte?«
    »Nein, leider nicht.«
    Er schob den Aschenbecher näher zu sich. »Sie versuchen es, sagen Sie? Heißt das, Sie haben keinen Vertrag dafür?«
    »Ich bin mit mehreren Verlagen in Kontakt, aber mein Agent hat mir geraten, ein detailliertes Exposé fertigzustellen, bevor er etwas Konkretes für mich aushandelt. Die einzige Periode, die mir noch fehlt, ist die Zeit, als Lowell das Sanktum eröffnete. Sie sind der einzige Stipendiat, den ich bisher ausfindig machen konnte.«
    »Tatsächlich? Bitte, setzen Sie sich doch. Möchten Sie etwas trinken?«
    »Nein, aber wenn Sie etwas möchten…«
    Er lachte. »Nein, danke, zwei Drinks sind mein Limit um die Mittagszeit.«
    Er ließ die Rechnung kommen und bestellte Kaffee für uns beide.
    »Nett, daß Sie mit mir reden«, sagte ich.
    »Aber nur für ein paar Minuten.« Er schaute auf die massige Rolex an seinem Handgelenk. »Also, warum in aller Welt wollen Sie ein Buch über Buck schreiben?«
    »Er ist ein interessanter Fall. Der Aufstieg und Untergang eines bedeutenden Talents.«
    »Hm, na ja. In meinen Augen war er eine ziemliche Null. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber mir kam er wie eins dieser ewigen Kinder vor, in die ihr Amerikaner so vernarrt zu sein scheint. - Was wollen Sie also wissen über die Spinnenfarm?«
    »Wie bitte?«
    »Die Spinnenfarm. So nannten wir es damals. Das Gelände war voller Spinnen, Käfer, Ameisen, alles mögliche, und wir mittendrin. Irgendwie haben wir damals alle gesponnen. Deswegen hatte der alte Knabe uns wahrscheinlich ausgesucht. Wie geht es ihm denn heute?«
    »Er lebt noch, aber er ist sehr krank.«
    »Das tut mir leid, aber viel kann ich Ihnen trotzdem nicht erzählen. Das ganze war eine Farce und ging nicht länger als ein Jahr.«
    »Das weiß ich«, log ich, »obwohl mir bisher niemand sagen konnte, warum.«
    »Weil der Alte das Interesse verlor. Für ein Jahr waren wir seine Lieblinge, und dann gab er uns einen Tritt in den Hintern - zum Glück, kann ich nur sagen. So lernte ich wenigstens, wie es in der wirklichen Welt zugeht.«
    »Wie hat er Sie ausgewählt?«
    »Ich war damals Künstler - jedenfalls dachte ich das.« Er schaute auf seine schlanken, kräftigen Hände. »Bronze und Stein waren mein Gebiet. Ich war gar nicht schlecht. In England hatte ich ein paar Preise gewonnen, und dann bekam ich einen Vertrag mit einer Galerie in New York. Der Eigentümer hörte von der Kolonie und empfahl mich an Lowell. Dafür behielt er das Geld für die zwei Objekte von mir, die er verkauft hatte.«
    »Von Bildhauerei zum Versicherungswesen - ein interessanter Wechsel.«
    Er drückte sein Zigarillo aus. »Finden Sie? Wie auch immer, es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr erzählen kann. Wie gesagt, wir haben damals alle gesponnen.«
    »Haben Sie vielleicht eine Idee, wo ich die anderen Stipendiaten finden könnte? Außer Sprentzel, natürlich. Der ist tot.«
    Er kratzte sich den Nacken. »Wirklich? Der arme Kerl. Woran ist er gestorben?«
    »Er hat Selbstmord begangen. Vor seinem Tod muß er lange krank gewesen sein.«
    »Aids?«
    »Wie kommen Sie darauf? War er homosexuell?«
    »Er war stockschwul, aber sonst ganz nett. Er war ziemlich still, richtig melancholisch, und hat den ganzen Tag sein komisches Notenpapier vollgekritzelt.

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