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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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lassen, wonach auch immer mir verdammt nochmal der Sinn steht. Weißt du warum? Soporo fand zwischen den Trümmern auf dem Hof einen Betonklotz, setzte sich und nieste. Sag mir warum, bat er. Und Rumi erwiderte: Weil du nicht richtest, das hast du nie getan. Du nimmst hin, ohne zu verurteilen. Was glaubst du, warum ich dir gesagt habe, was ich alles gesagt habe? Du bist wie ein Arzt oder ein Priester, nie überrascht, erst recht nicht von dem, was Menschen so tun. Ich wusste, du würdest nichts verraten, deshalb konnte ich es dir erzählen. Natürlich habe ich ein paar Sachen verschwiegen. Und dann erzählte ihm Rumi einiges von dem, was er ausgelassen hatte. Zum Beispiel, fuhr er fort, habe er die Geschichte von der Verrückten ausgelassen, die unter der Grant Road Bridge lebte, dieser verlausten Irren mit ihrem verlausten Balg. So ungenügend, sagte er. Alles. Ich meine, was will man über so ein Baby sagen? Was über eine solche Mutter? Dann tat er, als denke er nach. Wer noch? Ja, eine Bettlerin auf der Arab Gully. Sie wollte sterben, flehte mich an, sie zu töten, aber ich wollte nicht, schließlich hatte ich mich nicht zu Gottes Richter ernannt. Dann aber tat ich es doch, sah es als meinen Dienst an der Gesellschaft an. Die Frage lautet also: Was ist das Schlimmste, was über mich gesagt werden kann? Dass ich zwei, drei Leute von ihrem Elend erlöst habe? Übrigens würde ich dasselbe auch für dich tun, aber was hätte das für einen Sinn? Du bist ja schon tot. Er setzte sich und sank bald so weit vornüber, dass sein Kopf fast den Boden berührte. Schließlich stand Soporo auf und ging zu ihm. Er sah den rasenden Pulsschlag in Rumis Halsader. Irgendwo in der Nähe krächzte eine Krähe; um diese Nachtzeit ein ungewöhnlicher Laut. Es roch nach Verbranntem, nach Müll oder Laub, und ein Flugzeug flog über sie hinweg, flog unglaublich tief. Soporo schaute Rumi an und dachte: Wie einfach es doch wäre.

Viertes Buch
    Einige Beispiele für Reinkarnation
    1 Eine große Ansammlung kleiner Niederlagen
    Etappenweise kehrte ich in die Stadt zurück. Ich flog nach Delhi und nahm einige Tage später den Zug nach Bombay. Auf diesem letzten Reiseabschnitt stand ich meist in der Tür des Rajdhani Express und sah das Land vorüberziehen. Spät abends taumelte eine Gestalt auf mich zu, das Gesicht nass von Blut, mit Pockennarben übersät, und die Lippen bewegten sich, nur verstand ich kein Wort. Dann begriff ich, dass die feuchten Flecken Paan waren, lange Spritzer auf Kinn und Hemd; er wischte sich über den Mund und fiel zurück in sein Abteil. Im Gang blieb es still, doch nur einen Moment lang. Dann ging die Tür wieder auf, und diesmal schaffte er es bis zum Becken, klammerte sich daran fest, beugte sich über die schmale Kluft zwischen Spiegel und Abfluss und würgte in die Schüssel. Ich kehrte in mein Abteil zurück, legte mich auf meine Liege und driftete zwischen Schlafen und Wachen hin und her. Ich traf Rumi in der Spelunke eines Toten, glaubte Spieler zu hören, die sich Glückstheorien zuflüsterten, krause Gebete für einen Geldgewinn, meinte den Maler Xavier zu sehen, wie er Martinis trank und Geld an Dimple verlor, die einen Goldzahn nebst Augenklappe trug und zwischen den Beinen eine baumelnde Opiumpfeife, während sie auf jede Frage des Malers dieselbe Antwort gab, dass nämlich die Stadt eine große Ansammlung kleiner Niederlagen sei, nichts weiter, und jeder Neuankömmling vermehre mit seinem winzigen Beitrag den unerschöpflichen Haufen. Ich verstand nicht das Geringste. Als ich viel später wieder auf den Gang trat, war der pockennarbige Mann immer noch da, umklammerte das Becken und musterte sich im Spiegel. Jetzt verstand ich, was er sagte. Krank, sagte er, ich bin krank, womit er zweifellos recht hatte.
    •••
    Ich träumte, es sei zwanzig Jahre früher, 1984 , und ich sei in Colaba. In der Stadt war der Strom ausgefallen, und unablässig hörte ich die Schreie kleiner Kinder. Ich ging zu einem Restaurant, dem Lieblingslokal der Nigerianer Bombays, und mein Freund saß im Hinterzimmer, trank Wodka und Bier. Auf dem Tresen brannte eine Reihe Kerzen. Ich setzte mich auf einen Barhocker und sagte, es täte gut, ihn zu sehen. Was er denn die letzten zwanzig Jahre so getrieben habe? Rumi musste lange lachen. Das hier ist die Vergangenheit, sagte er, nicht die Gegenwart. Ich bin gestorben, fuhr er schließlich fort. Hast du das nicht gehört? Er lachte wieder, leise diesmal, fast, als lachte er vor

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