Narcopolis
sich jemand um ihn kümmern. Er kam nach Hause, das Bein in Gips und in den Augen Angst. Sein Verstand übersprang Jahre, glitt vor und zurück ohne jede Chronologie. Er verlor seinen Glauben an den geradlinigen Verlauf der Zeit. Er erzählte ihr sein Leben, indem er Räume beschrieb, in denen er gewohnt hatte: Das Haus, das ihm als Offizier gehört hatte, das Lehmbodenhaus, in dem er aufgewachsen war, die Hotels, manchmal wochenlang sein Zuhause, Zimmer in Rangun, Chittagong, Delhi und Städte, deren Namen er vergessen hatte. Sein erstes Zimmer in Bombay hatte er mit jemandem geteilt, ein Zimmer in einer Herberge unweit der Grant Road, gegessen hatte er in einer Ashram-Küche, vegetarisch, schwer und mühsam zu verdauen. Ekel, sagte er und meinte, dort sei es eklig gewesen. Er sagte, komme ich abends gern auf mein Zimmer, weil ich kann dann mit mir im Spiegel Kantonesisch reden. Ich mag Klang von meine Sprache. So führte er lange, nur gelegentlich unterbrochene Gespräche mit dem Spiegel über das schreckliche Essen in der Stadt, den Schmutz und das schlechte Benehmen, die scharfen Körperausdünstungen, die alle Inder verströmten, da sich die Düfte des deftig gewürzten Essen durch die Poren wieder verflüchtigten. Wenn er redete, wurde er zu dem Menschen in der Geschichte, die er gerade erzählte, zu einem jungen Offizier in der Armee, einem Studenten, einem Flüchtling, der von Stadt zu Stadt zog, einem Kind. Er redete über Fahrräder und Bücher, über eine Pelzmütze, die er zum achten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und ein Dorf voller Leute namens Lee. Er redete über eine Frau, an deren Hals Schürfwunden von einem Seil zu sehen waren, und über einen Mann, der im Sommer erfror. Seine Stimme wurde selten lauter als ein Flüstern und gewann nur dann alle Autorität zurück, wenn er das Wort ›China‹ aussprach.
2 Weißer Lotus, weiße Wolken
Seine Mutter trug eine Brille mit breiter, schwarzer Fassung. Als die Fassung brach, reparierte sie sie mit Klebeband. Die Gläser saßen nicht korrekt, was seine Mutter ein wenig schiefäugig aussehen ließ, aber sie trug die Brille trotzdem. Er begleitete seine Mutter, wenn sie die Essensmarken gegen Reis eintauschte, ging aber vor ihr her und tat, als kenne er die Frau mit der geflickten Brille nicht. Ein Rudel Jungen imitierte ihren Gang und die Schielaugen. Wenn sie über sie lachten, musste die Frau mit der ramponierten Brille ebenfalls lachen. Es war ein schüchternes Lachen, bei dem sie sich wie ein Kind mit beiden Händen den Mund zuhielt. Der Zustand ihrer Brille hinderte die Frau nicht daran, jeden Tag die
Rote Fahne
zu lesen. Sie weigerte sich, etwas anderes zu lesen. Sie verschmähte die
Volkszeitung
sowie andere Publikationen und nannte sie reaktionär oder revisionistisch oder feudal, dekadent und konterrevolutionär. Die Frau arbeitete in einer Fabrik, und sie beschwerte sich bei den Bossen darüber, dass ihre Arbeitskollegen sich der Pornographie hingaben. Die Anklage wog so schwer, dass sich der Stellvertretende Sekretär veranlasst sah, der Sache in der Fabrikhalle persönlich nachzugehen. Als er herausfand, dass sich die Arbeiter über ein ausländisches Nachrichtenmagazin und insbesondere über die spärliche Bekleidung der Mannequins in den Anzeigen unterhalten hatten, tadelte der Stellvertretende Sekretär die Frau, ließ es dabei aber bewenden, da sie trotz allem ein Beispiel revolutionären Eifers gegeben hatte. Sie glaubte an Heilkräuter und Akupunktur und hatte stets eine Flasche mit Eukalyptusöl bei sich, mit dem sie alles behandelte, ob Kopfschmerzen oder Regelschmerzen, verstimmter Magen oder Entzündungen, aber auch ernstere Verletzungen, etwa Verbrennungen und Schnittwunden. Das ganze Jahr über trug sie schwarze oder blaue Kleider, schwarze Segeltuchschuhe und auf dem Kopf eine grüne Schirmmütze, eine Männermütze. Trotz der Schelte, die sie vom Stellvertretenden Sekretär erhalten hatte, fuhr sie fort, ihre Kollegen in der Fabrik als dekadent oder reaktionär zu beschimpfen, und sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, da sie sich über so frivole Dinge wie Kleider und Geldprobleme unterhielten. Auf das Geld hegte sie einen wahren Hass. Ihren Lohn gab sie dem Vorarbeiter zurück und sagte: Durch solchen Dreck will ich mich nicht beschmutzen lassen. Dann fuhr sie fort: Seien Sie vorsichtig, seien Sie sehr vorsichtig, sonst korrumpiert Sie das Geld, ohne dass Sie es merken. Als die Arbeiter einen Bonus erhielten, weigerte
Weitere Kostenlose Bücher