Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
Vom Netzwerk:
Geistes. Während sie diese verblüffenden Aussagen machte, musterte sich Lees Mutter im Spiegel. Sie hielt den Kopf gereckt, den Rücken durchgedrückt. Was tat sie da? Stellte sie sich vor, Heldin in einem Revolutionsfilm zu sein? Oder malte sie sich ihre Rolle an der vordersten Front des neuen Chinas aus? Als sie sich zu ihrem Jungen umdrehte, tat sie dies mit so kalter, unmenschlicher Miene, als starrte sie auf eine erbarmungslose Wüstenlandschaft, eine nichtssagende gelbe Ödnis, in der alle Vergehen stillschweigend geduldet wurden und außer Hoffnung nichts möglich schien.
    »Du bist mein Sohn«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Du bist mein einziger Sohn. Weißt du warum?«
    »Nein, Mutter.«
    »Weil ich nicht wollte, dass im Haus lauter dicke Jungen und Mädchen herumrennen. Ich wollte nicht den Familiennamen deines Vaters mehren, indem ich half, eine Dynastie heranzuziehen. Deshalb habe ich mir geschworen, nur ein einziges Kind zu bekommen, und dein Vater musste mir das ebenfalls schwören. Weißt du warum?«
    »Nein, Mutter.«
    »Um uns von der reaktionären Bourgeoisie abzusetzen. Um sicherzugehen, dass unser einziges Kind sich sowohl intellektuell wie physisch und vor allem auch moralisch entwickeln konnte. Und um dir zu helfen, ein guter Arbeiter mit sozialistischem Bewusstsein und sozialistischer Disziplin zu werden.«
    Sie zog die Lippen hoch, als wollte sie lächeln, begann stattdessen aber zu weinen, drehte sich erneut zum Spiegel um und schaute sich an. Sie verzog die vollen Lippen und hob sie an einer Stelle an, um ihm die kaputten Zähne zu zeigen, die da aus ihrem Kiefer ragten. Der Junge begriff, dass sie versuchte, sich hässlich zu machen, und ihm fiel auf, dass er sie nie zuvor weinen gesehen hatte. Er bekam Angst.
    »Keine Sorge«, sagte er. »Ich werde bestimmt ein guter Arbeiter.«
    »Schau mich an«, verlangte die Mutter mit fleckigen Wangen. »Ich hätte meine ganze Kraft darauf richten sollen, die Modernisierung unseres Landes zu fördern. Stattdessen werde ich zum Klassenverräter. Ich will an die Universität.«
    •••
    Sie schlief unruhig und wachte zu den ungewöhnlichsten Zeiten auf. Sie konnte die Nacht nicht mehr ungestört durchschlafen. Sorgen weckten sie und hielten sie wach, die Augen offen, in den Ohren ein hämmernder Puls. Sie wachte auf und blieb reglos liegen, lauschte den Geräuschen der Nacht und dem stetigen Atem ihres Mannes in seinem Bett am Fenster. Sie hörte ihren Sohn im Nebenzimmer, wie er im Schlaf redete. Was sagte er? Die Worte waren zu gedämpft, um sie verstehen zu können. Sie kniff die Finger zusammen und dachte an die Gesellschaft vom Weißen Lotus, jene Rebellen und Mystiker, deren Nachfahren die heroischen Patrioten der Gesellschaft der rechtschaffenen und harmonischen Fäuste bildeten. Die Fäuste wurden berühmt, weil sie die Waffen gegen alle ausländischen Verschwörer erhoben, die China teilen wollten, doch ging ihre Bedeutung noch weit darüber hinaus. Mrs Lee bewunderte sie allein schon aus dem simplen Grund, dass sie das große Werk des Weißen Lotus fortgesetzt hatten, einer geheimen Gesellschaft, die von jenem Bauern angeführt worden war, der die Mongolenarmeen besiegte, sich selbst zum Kaiser ernannte und eine Dynastie gründete. Wie alle Dynastien wurde auch diese irgendwann dekadent und korrupt, nicht aber die Gesellschaft vom Weißen Lotus, die, so Mrs Lee, zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt der chinesischen Geschichte wurde; sie war der Quell, dem Chinas Größe entsprang. Verhalten zählte sie jene Namen des Weißen Lotus auf, mit denen die Gesellschaft ihre Existenz während der Jahre im Untergrund getarnt hatte. Sie sprach sie nur ganz leise aus, denn sie laut zu nennen hieße, Unglück heraufzubeschwören. Weiße Wolke, sagte sie und wartete. Sie sagte Weißer Fächer und wartete. Und dann – denn kein Name war so gefürchtet wie dieser – sagte sie stumm: Weiße Augenbrauen. Sie richtete sich auf, setzte die Füße auf den Boden und lauschte. Sie lauschte und ging dann im Dunkeln durchs Haus. Es war eine helle Nacht; es schneite. Mondlicht fiel auf den Küchenboden mit einem seltsamen Klang, den sie nicht gleich erkannte, dann aber spürte sie, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Es war der Klang des Geldes. Sie legte die Finger an den Hals und drückte zu, bis sie spürte, wie ihre Nägel die Haut aufrissen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Schmerz, nur war der nicht stark genug. Sie

Weitere Kostenlose Bücher