Narcopolis
entdeckte ihre Nagelfeile mit dem flachen Stahlhaken, steckte sich den Haken in den Mund, zwängte ihn zwischen Zahnfleisch und Zähne und drehte, bis ihr Speichel nach Kupfer schmeckte. Dann ging sie ins Vorderzimmer, wo ihr Sohn schlief. Er lag auf der Seite, den Kopf auf den Händen. Er hatte sich die Schlafmatte vor die Tür gelegt, als wollte er das Haus gegen Eindringlinge schützen. Auf Zehenspitzen schlich sie sich heran, bis sie nahe genug war, um hören zu können, was er sagte, eine Prophezeiung, die allein für ihre Ohren bestimmt war. Er sagte: »Nichts.«
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Lee und sein Vater beachteten die Wertschätzung kaum, die Lees Mutter neuerdings für Bildung hegte. Sie hatte Fahrstunden nehmen wollen, obwohl kaum Aussicht bestand, dass die Familie je ein Auto besitzen würde. Sie hatte Unterricht in Kampfsport genommen, ging aber nach der ersten Stunde nicht wieder hin, da sie körperliche Ertüchtigung nicht gewohnt war. Sie hatte Ingenieur werden wollen, denn Brücken, sagte sie, sind der Schlüssel zur Zukunft. Aus all ihren Wünschen war nichts geworden. Diesmal kam es jedoch anders. Sie schrieb sich tatsächlich an der Abendschule ein, obwohl ihr die notwendigen Examen fehlten und man sie offiziell gar nicht in die Klasse aufnehmen konnte. Sie las laut aus Unterrichtsbüchern über moderne Geschichte vor, ihre Stimme so schrill, als streite sie sich mit jemandem, ein alter Streit, der im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden war. Je näher der Prüfungstag rückte, desto nervöser wurde sie. Sie schlief kaum noch und vergaß zu essen. Eines Abends brachte Lees Vater einen Karpfen nach Hause, den ihm jemand geschenkt hatte; und mit Schalotten, geschältem Ingwer, einigen zerdrückten Knoblauchzehen und einem halben Löffel Sesamöl verarbeitete er ihn zu einem Eintopf. Seine Mutter blieb auf ihrem Zimmer, obwohl köstliche Gerüche durch das Haus zogen. Lees Vater löffelte etwas Fischeintopf in eine Schüssel, die er ihr mit einer Beilage Reis und etwas Grillfleisch brachte. Sie heulte auf, laut genug, um die Nachbarn zu wecken. Du willst mich umbringen, sagte sie. Du willst mich mit Essen korrumpieren. Du willst, dass ich sterbe, sterbe. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass es sich nicht gehört, so viel Grillfleisch zu essen, wenn jedem Bürger pro Monat nur zweihundertfünfzig Gramm zustehen? Du bist mein Tod. Sie ging in das andere Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Lee hörte, wie Möbel gerückt wurden und etwas zu Boden fiel. Sie gingen nach draußen und schauten durchs Fenster. Lees Mutter schwebte in die Höhe. Sie wollte zum Himmel aufsteigen, aber irgendwas schien ihr im Hals festzustecken und hinderte sie daran. Das Gesicht lief dunkel an, die Brille fehlte. Wo war die Brille? Lee blickte sich suchend um und entdeckte sie am Boden, in drei Teile zerbrochen, das Klebeband aber hielt. Sein Vater schlug das Fenster ein und umklammerte ihre Beine, während Lee das Seil losband. Es hinterließ eine Kerbe, eine dunkelrote Furche, die sie für den Rest ihres Lebens behielt.
3 »Opium rauchender Bandit«
Etwa um diese Zeit wurden einige Schriftsteller zu einer Vortragsreihe mit Mao Zedong ins kommunistische Hauptquartier gerufen. Am vierten Tag, in einer Rede mit dem Titel ›Gedanken zu Kunst und Literatur‹, legte Mao eine Anzahl von Richtlinien für Schriftsteller fest. Sie sollen weder Ruhm noch literarische Verdienste begehren, sagte er, handle es sich dabei doch allein um ein Trachten nach narzisstischer Genugtuung. Ruhm diene keinem anderen Zweck, als das Selbstwertgefühl des Schriftstellers zu stärken, das durch die egoistische Natur seiner oder ihrer Arbeit sowieso schon aufgebläht sei. Diese Betrachtungen stelle er durchaus nicht leichtfertig an, verkündete Mao, schließlich sei er selbst Schriftsteller, aber auch ein Leser, was es ihm erlaube, die zahlreichen Dünkel der literarischen Welt angemessen beurteilen zu können. Nur wenige Schriftsteller seien zu der Einsicht bereit, dass ihre Arbeit letztlich keine größere Bedeutung habe als die des Bauern. Im Gegenteil, ohne den Bauern stürze die Nation in eine Krise, ohne Schriftsteller würde sie jedoch vermutlich weiterhin florieren und gedeihen. Dennoch neigten Schriftsteller zu endlosem Gerede über sich selbst, der schlimmsten Form bourgeoiser Manieriertheit, unter der China zu leiden habe. Bourgeoise Ideen manifestierten sich auf vielerlei Art, sagte Mao, manche auf heimtückische, andere auf ganz
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