Narcopolis
sie sich, ihn anzunehmen, denn ein Bonus, sagte sie, sei Revisionismus in seiner hässlichsten Form. Unterdessen beglich sein Vater die Ausgaben für den Haushalt, bezahlte Lebensmittel, Kleider und Medizin für sie alle drei und erntete dafür von ihr nur Verachtung.
Sein Vater rauchte vom ersten wachen Augenblick am Morgen bis zu dem Moment, in dem er einschlief. Er rauchte eine chinesische Marke, Zigaretten aus Virginiatabak, die er stangenweise kaufte. Fehlte es ihm dafür an Geld, kaufte er schwarzen Tabak, den er sich in die Pfeife stopfte. Sein Vater war kein besonders überzeugter Kommunist. Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Begeisterung gruben die Dörfler einen Tunnel durch einen nahen Berg, gruben mit bloßen Händen und einfachstem Werkzeug. Einige Armeeoffiziere sowie ein Revolutionsführer besuchten die Baustelle und tauften den Tunnel ›Triumph des Volkes‹. Sein Vater verweigerte jede Mitarbeit. Er wurde gehört, wie er den Dörflern, seinen Verwandten, die alle den Nachnamen Lee trugen, vorhielt, sie hätten besser daran getan, eine Straße um den Berg zu bauen oder sich einen Lastwagen anzuschaffen. Er vertrat seine Meinung unverblümt, wurde von der Partei aber nicht abgemahnt. Das Dorf der Lees war nämlich nicht bloß weithin für die ideologische Korrektheit seiner Bewohner, sondern auch für Mr Lees Vater bekannt, der eine Reihe von Romanen über einen Strolch namens Ah Chu geschrieben hatte. Dieser Strolch besaß einen Hang zum Desaster, und sein Innenleben stand ihm ins mit Furunkeln bedeckte Gesicht geschrieben. Da jedes Jahr, zumindest jedes zweite Jahr ein Buch erschien, verlief Ah Chus Leben gleichsam in Echtzeit, und die Leser konnten es kaum erwarten herauszufinden, welche Dummheiten er seit der letzten Folge begangen hatte und wie sehr sein Leben diesmal aus den Fugen geriet. Die Serie war vor allem deshalb bei den Kommunisten beliebt, weil man in Ah Chu eine Symbolfigur der Republik China zu sehen meinte und weil jede Menge Witze drin vorkamen.
Die Kindheit des Ah Chu
, das erste Buch der Serie, begann mit einem Witz über Ah Chus Vater, einen korrupten Regierungsbeamten, der seinen Zynismus wie eine große offene Wunde zur Schau trug. Er glaubte an nichts, traute niemandem und interessierte sich für nichts anderes als für seinen Wein. Eines Nachmittags kam ihn ein Freund besuchen und traf Ah Chus Vater dabei an, wie er sich seinen Zopf absäbelte. Was machst du da, ruft der Freund. Bist du verrückt geworden? Ich schneide mir das Haar, weil mein Sohn das Haus verlassen hat, erwidert Ah Chus Vater. Dem Mann fällt etwas auf, was ihn noch mehr verwundert als der malträtierte Zopf. Sag, fragt er, warum bist du heute nüchtern? Ich habe beschlossen, mit dem Trinken aufzuhören, bis mein Sohn wieder in den Schoß der Familie zurückkehrt, sagt Ah Chus Vater. Und wo ist dein Sohn hin, will der Freund wissen. Er holt Wein, sagt Ah Chus Vater. Das war nicht einmal der beste Witz jener Zeit, aber die Leser haben ihn geliebt, da ihnen Witze grundsätzlich gefielen, sogar schlechte; das Buch wurde mehrfach nachgedruckt.
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Lee ging noch zur Schule, als seine Mutter entschied, ein Studium zu beginnen, auch wenn sie nicht wusste, welche Art Abschluss sie wollte und in welchem Fach. Sie hielt nichts von Kultur. Sie hielt nichts von Büchern. Sie hielt nichts von einem Wissen, das der Gesellschaft nicht als Ganzer nützte. Sie fand, wahllose Lektüre schade dem Fortschritt, weil in der Bevölkerung dadurch Wünsche geweckt wurden, die unmöglich zu kennen und erst recht nicht zu erfüllen waren. Gesellschaften mit der höchsten Alphabetisierungsrate wiesen auch die höchste Selbstmordrate auf, sagte sie. Manches Wissen sollte nicht frei zugänglich sein, fuhr sie fort, da nicht alle Männer und Frauen in der Lage seien, dieses Wissen auf gleiche und gleich nützliche Weise aufzunehmen. Sie hielt nichts von der Kunst um der Kunst willen; sie hielt nichts von der Freiheit des Wortes; sie hielt nichts von ihrem Mann, dessen Ansehen als Romancier in ihr gleichermaßen Misstrauen wie Scham auslöste. Trotz dieser lebenslangen Aversion gegen Kultur aber würde sie zur Universität gehen, weil sie Lehrerin werden wollte. Der Beruf des Lehrers sei der edelste der Welt, sagte sie. Ein guter Lehrer war selbstlos, revolutionär und von entscheidender Bedeutung für das Wohlbefinden der Nation. Ihn interessierte kein Geld, das war unrettbar schmutzig, ihn interessierte allein die Zukunft des
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