Narcopolis
offensichtliche Weise, doch zeichne sie stets jene Maßlosigkeit aus, die man auch Individualismus nenne. Nur ein Prozess steter Säuberung könne die Gesellschaft von diesem Übel befreien. Was nun die literarischen Verdienste angehe, so sei das Streben danach so gefährlich wie das Verlangen nach Ruhm, da solcherlei Verdienste nur bezweckten, den posthumen Ruhm des Schriftstellers zu fördern. Was aber sei der Sinn eines solchen Ruhms? Inwiefern sei er der Gesellschaft förderlich? Literatur, sagte Mao, finde den ihr angemessenen Zweck allein im Dienste der politischen Sache. Schriftsteller, die dies nicht verstünden, hätten im neuen China keinen Platz.
Unter den zu diesen Reden geladenen Autoren war auch Lees Vater, dem sich bei Maos Worten der Magen zusammenzog. Er behielt seine Gedanken für sich. Seine Freundin aber, die äußerst produktive Romanschriftstellerin, Essayistin und Übersetzerin Ling Ling war mit den Ansichten des Vorsitzenden über Literatur und deren Zweck nicht einverstanden und äußerte sich entsprechend. Sie sagte, ein Kunstwerk gehorche seinen eigenen Regeln und sei allein jenen Beschränkungen unterworfen, die ihm durch die Phantasie seines Schöpfers – oder deren Fehlen – gesetzt würden. In einem Roman ließen sich die Figuren nicht so schwarzweiß wie in manch unverhohlen politischem Werk zeichnen. Helden, fuhr sie fort, hätten keineswegs stets unverfälschte Motive oder einen reinen Charakter, manchmal erzählten sie Lügen, oder sie wurden betrogen. Bösewichter sind auch nicht immer gänzlich böse; oft seien sie innerlich zerrissen, unglücklich oder in einem quälenden Konflikt zwischen sozialistischen Idealen und dem uralten Trieb des Eigeninteresses gefangen. Ling Lings Ansichten wurden als reaktionär angeprangert und die Autorin auf der Stelle in ein Arbeitslager gesteckt, wo sie sich als Bäuerin bewähren sollte. Nach kaum einer Woche befand man ihre Arbeit für ungenügend und schickte sie ins Gefängnis. Ling Ling war ausgebildete Ärztin und in der Lage, die Unannehmlichkeiten eines Gefängnisses eine Weile zu ertragen, doch nach drei Monaten Haft hielt sie eine spektakuläre Rede vor dem Nationalen Volkskongress. Alles, was ich je geschrieben habe, sollte vernichtet werden, alles, alles, vernichtet und zu Asche verbrannt; die Asche streue man in den Wind, sagte sie. Mein Werk ist wertlos, weil ich das Werk des Vorsitzenden Mao Zedongs nur unzureichend studiert habe, doch bin ich erst siebenundsechzig Jahre alt und kann noch von Nutzen sein. Wenn ihr mich bittet, den Feind mit bloßen Händen zu bekämpfen, werde ich es tun. Ich kämpfe, bis meine Hände nur noch Stummel sind. Lees Vater blieb das Gefängnis erspart, aber man fand, dass er und auch zwei weitere Autoren Ling Ling nahestanden, weshalb er zur Umerziehung auf die Felder in der Nähe des Lagers geschickt wurde. Er durfte rauchen und singen, aber nicht zu seinen Arbeitskollegen sprechen, Bücher lesen oder einen Stift benutzen.
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Als er drei Wochen später heimkehrte, erwähnte er mit keinem Wort, was während seines Besuches im Hauptquartier der Kommunisten vorgefallen war. Wenn seine Nachbarn ihn fragten, erwiderte er nur, es sei sehr aufschlussreich gewesen, und beließ es dabei. Er stürzte sich mit neuer Gier aufs Opium. Solange sich Lee erinnern konnte, hatte sich sein Vater nur zu seltenen Gelegenheiten mal eine Pfeife gegönnt. Er rauchte diszipliniert wie ein Genießer, selten mehr als eine Pfeife, kaufte Opium guter Qualität und teilte sich eine Pfeife für den ganzen Abend ein. Jetzt war es anders. Mit der Frau eingesperrt auf ihrem Zimmer, den Kopf voller Arbeitsprobleme, gab er sich dem Opium hin und rauchte sechs, acht Pfeifen im Laufe eines einzigen Tages; zwischendurch qualmte er Zigaretten. Er steckte sich eine an, ließ sie im Aschenbecher liegen und griff bereits nach der nächsten. Legte er mal eine Pause ein, ging er zum Schreibtisch und arbeitete ein, zwei Stunden, selten mehr, und brachte auf diese Weise
Der Ausschlag des Ah Chu
zu Ende, die letzte seiner Ah-Chu-Geschichten, die sich diesmal vor allem um einen akuten Anfall von Schuppenflechte drehte, eine Krankheit, die dem alten, unglückseligen Mann schrecklich zusetzt. Der Roman enthält ausführliche Beschreibungen der bösartigen Natur dieser Krankheit und auch der diversen Arten, sich zu kratzen, die Ah Chu in der vergeblichen Hoffnung ausprobiert, auf diese Weise ein wenig Erleichterung zu finden. Auf jeder der
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