Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
Vom Netzwerk:
etwa zweihundert Seiten herrscht Winter. Es regnet, es hagelt, und die Sonne hat keine Chance, da der durch sein Leiden aus dem Takt geratene und von Schlaflosigkeit geplagte Ah Chu bloß nachts das Bett verlässt. Am Ende, als er nur noch ein Häuflein Galle und Eiter auf einem stinkenden Krankenbett ist, erhängt sich Ah Chu im Esszimmer am Leuchter. Wenige Augenblicke später geht die Sonne auf, der einzige Moment in einer dichten, klaustrophobischen Erzählung, in der Licht die Düsternis durchbricht.
Der Ausschlag des Ah Chu
verkaufte sich kaum und erregte einige ungewollte, offizielle Aufmerksamkeit. Die
Volkszeitung
schrieb, Lees Vater hätte zu sehr mit der Metapher geflirtet, weshalb es ein ziemlich wirres Buch geworden sei. Da es sich jedoch um das Buch eines Schriftstellers handle, der sich einen Ruf als Kritiker der Dekadenz erworben habe, sei ein einziger Ausrutscher entschuldbar. Bei diesen Äußerungen schien es sich um die offizielle Parteilinie zu handeln, da sie ähnlich von anderen Publikationen, aber auch von jenen Kadern wiederholt wurden, denen man nachsagte, über derlei Dinge genau Bescheid zu wissen. Lees Vater schenkte der Kritik keine Beachtung. Er schrieb eifrig an einem richtigen Buch. Da Ah Chu endlich tot war, so tot, dass keine Möglichkeit einer Wiederauferstehung bestand, fühlte er sich frei, einen neuen Stil zu probieren und ein langgehegtes Projekt anzugehen, das er viele Jahre lang immer wieder aufgeschoben hatte. Er arbeitete auf seine gewohnte, eher lässige Manier und schrieb in halbstündigen Schüben, als ginge es allein darum, beim Opiumrauchen eine Pause einzulegen. Solcherart schrieb er einen schmalen,
Prophezeiung
genannten Band, der nahezu unmittelbar nach seiner Veröffentlichung wieder von den Regalen verschwand. Das war 1957 , dem Jahr der ersten Säuberung, und als den Buchhändlern aufging, wovon das Buch handelte, vernichteten sie ihre Exemplare, versteckten sie oder verloren sie absichtlich. Die offizielle Reaktion ließ nicht auf sich warten. Lees Vater sei ein Revisionist, hieß es, und man sollte ihn zu körperlicher Arbeit aufs Land schicken. Er sei ein Opium rauchender Bandit. Man müsse ihn zwingen, ein Plakat zu tragen, auf dem ›Ich bin ein Ungeheuer‹ stand. Ein selbsternannter Ultralinker, ein Verfasser von Kurzgeschichten, schrieb, das Buch sei das Produkt eines kranken Verstandes, ›eine Made auf dem Leichnam seines eitrigen revisionistischen Herrn‹. Er empfahl, den Verfasser ins Gefängnis zu stecken. Die nachdrücklichste Kritik kam von einem als Liebling der Partei bekannten Schriftsteller. All seine Bücher hatten einen ähnlichen Plot und vergleichbare Figuren, auch wenn sich die Namen von Buch zu Buch änderten. Held war stets ein attraktiver junger Bauer, der unter einem Vorgesetzten zu leiden hatte. Der Bauer war ein eifriger Leser der Werke des Vorsitzenden Mao, sein Vorgesetzter ein ehemaliger Landbesitzer oder Regierungsbeamter, ein Schönschwätzer und Verführer, kurz, ein Lüstling und Bösewicht, der ein allgemein gewünschtes Dorfprojekt sabotierte, etwa den Bau eines Damms, einer Brücke oder eines Telegraphenamtes. Nach mancherlei Auseinandersetzungen gelang es dem Helden, seinem Vorgesetzten die Maske vom Gesicht zu reißen und zu beweisen, dass er für jene Krankheit verantwortlich war, an der die Kinder des Dorfes litten, der Grund, warum es dem Bezirk trotz seiner hart arbeitenden Bewohner nicht gutging. Der alte Mann verlor seinen Job, der jüngere Mann rückte nach. Am Ende zitierte der junge Protagonist einen Aphorismus des Vorsitzenden Mao über den seinem Wesen nach endlosen Klassenkampf: ›Was den Bauern genommen wurde, muss den Bauern zurückgegeben werden. So lautet das Gesetz, jetzt und immerdar.‹ Oder: ›Revolution muss pausenlos auf Revolution folgen.‹ Oder sogar: ›Das Volk sagt, es sei nervös, weil es an Gemüse und Seife fehlt. Bin ich vor Mitternacht nervös, nehme ich eine Schlaftablette und fühle mich besser. Versucht es mit Schlaftabletten.‹ Die formelhaften Romane des Schriftstellers konnten seinen Einnahmen nicht schaden, im Gegenteil, sie wuchsen von Jahr zu Jahr. Dieser Schriftsteller war nun der Erste, der eine lange, kritische Rezension von
Prophezeiung
schrieb und unter anderem behauptete, Lees Vater verdiene die Exekution, da sein Buch die Dekadenz als Tugend verherrliche. Er sei ›ein stinkiger Köter, der gern im Dunkeln kackt‹, und man sollte ihn für sein Versagen bestrafen. Der

Weitere Kostenlose Bücher