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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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sich, als er seine Mutter erkannte; er rang sie nieder und öffnete die Tür. Der Nebel lichtete sich, und viele Leute stürzten herein. Sein Onkel und noch irgendwer schütteten Wasser auf die qualmende Matratze. Sie führten Vater nach draußen, wo er fieberkrank in der warmen Sonne fröstelte und unkontrolliert zitterte. Von plötzlicher Zuneigung überwältigt zog Onkel sein Seidenjackett aus, schnitt mit einer Schere die Ärmel ab und streifte sie über Vaters Beine. Man brachte ihn in ein Krankenhaus, wo er am nächsten Tag starb, nicht an Sauerstoffmangel, sondern an Unterernährung. Lees reicher Onkel kam zur Beerdigung mit einem zweistöckigen Haus aus Pappe. Als das Haus brannte, sagte Onkel: Bruder, ich schenke dir ein großes Haus. Lee lachte. Reicher Onkel, sagte er, du hättest Vater ein Haus geben sollen, als er noch am Leben war.
    Im Anschluss an die Beerdigung ging Lee mit seiner Mutter nach Hause. Unter der verkohlten Matratze fand er ein Exemplar vom letzten Buch seines Vaters und las laut den ersten Satz, auf den sein Blick fiel: ›Nichts blieb vom alten Schiff als ein zersplitterter Mast, den die Dörfler in den Sand rammten, weshalb es kam, dass die felsigen Ufer der südchinesischen See jedermann bis auf die allerverzweifelsten Matrosen abschreckten.‹ Er blätterte zurück zum Anfang und begann, das Buch von vorn zu lesen. Was für eine Geschichte war das? Sie kam wie eine Biographie daher, doch standen da Dinge, die kein Biograph kennen konnte, zum Beispiel, was Männer und Frauen in wichtigen Augenblicken ihres Lebens dachten; außerdem wurde verraten, in wie vielen Jahren die eine oder andere wichtige Person sterben würde, sogar an welchem Gebrechen; und es gab zahlreiche Ankündigungen, die das Ende chinesischer Geschichte beschrieben, wenn unkontrollierter Unternehmergeist die Städte in Müll- und Gifthalden verwandelte. Eine Zeitleiste für die Welt zeigte an, wie viele Jahre es dauern würde, bis diverse Regionen des Planeten kollabierten und in Abgasen untergingen. Im Mittelpunkt aber stand ein charismatischer Autodidakt, weder Mann noch Frau, der seine Identität nach Belieben ändern konnte. War es eine erdachte Autobiographie? Ein historischer Roman? Oder wahre Fiktion, da so viele Details akkurat zutrafen, mehr noch, eigentlich unhinterfragbar waren? Lee las eine Seite oder zwei, dann packte ihn plötzliche Melancholie; er schloss das Buch und legte es zurück unter die Matratze. In den nächsten Tagen nahm er es immer mal wieder zur Hand und las, bis ihn erneut Trauer überkam und er es fortlegen musste. Er brauchte lange, um es durchzulesen, und als er zum Ende kam, wusste er, dass dieses Buch das eigentliche Meisterwerk seines Vaters war.
    •••
    Prophezeiung
beginnt hundert Jahre in der Zukunft, als 2056 ein junger Archäologe, ein Cherokee-Indianer, vor einer ungenannten Katastrophe in einer ungenannten Stadt flieht und in eine Gegend gelangt, die ihm vage vertraut vorkommt. Er erkennt sie schließlich aus den alten Geschichten seines Stammes wieder, die längst nicht mehr erzählt werden, da die Alten, die sie kannten, gestorben sind. Er befindet sich im Land seiner Vorfahren, jenem uralten Land, das in Liedern und Gebeten beschrieben wurde. Inzwischen ist es zu einer verlassenen, urbanen Hochebene verkommen. Tagelang zieht er umher. Er ist das einzige Lebewesen. Es gibt weder Kojoten noch Vögel oder Insekten, auch kein fließend Wasser. Wird er hungrig oder durstig, injiziert er sich Gemüseextrakt, tierische Proteine und Zucker, wird er müde, nimmt er eine Vier- oder Acht-Stunden-Tablette, was es ihm erlaubt, so lang wach wie nötig zu bleiben. Eines Morgens gibt seine Gürteltasche ein warnendes Summen von sich, gefolgt vom eher unaufdringlichen Ton einer Sirene. Er beginnt zu graben und sagt dabei die Namen der Farben in seinem Farbkasten auf. Aliceblau, sagt er und: Sonnenscheingelb. Und dann sehr rasch: Electric Pink, Fleischfarben, Echtes Pink. Er sagt: Unechtblau. Er sagt: Mittelambergelb. Als ihm die Farbnamen ausgehen, beginnt er von vorn: Aliceblau, Sonnenscheingelb und so weiter. Spät am Nachmittag findet er, wonach er gegraben hat, jenen Gegenstand nämlich, der den Alarm ausgelöst hat, eine Ansammlung blauweißen Porzellans in einer rostigen Kiste sowie eine kleine Messingmedaille mit einer Inschrift:
Bevollmächtigt und verliehen vom Großen Ming
. Er datiert die Medaille auf das späte vierzehnte Jahrhundert und macht noch eine erstaunliche

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