Narcopolis
Schriftsteller machte sich zudem die Unruhen in der Hauptstadt zunutze und hängte eine Wandzeitung auf, die Lees Vater als einen ›konterrevolutionären Parasiten Chruschtschow’scher Art‹ denunzierte. Es war nur eines von hunderttausend Plakaten, die damals an Pekings Mauern klebten, dennoch wurde es wahrgenommen, und die
Volkszeitung
zitierte einige Zeilen daraus: ›Eine Fliege kann keinen Mammutbaum fällen. Was kann da schon ein dekadenter Tagträumer und Bourgeois tun? Wir werden uns die sozialistische Zukunft Chinas von ihm nicht vermiesen lassen!‹ Dies schien das Urteil der Partei wiederzugeben, da der Schriftsteller offenkundig nur wiedergab, was seine Herren und Meister ihm diktiert hatten. Die Karriere von Lees Vater war zu Ende, doch ehe man ihn ins Gefängnis stecken konnte, wurde er krank.
4 Sein Vater, das Insekt
Eines Nachmittags kam Lee nach Hause und sah, wie sich seine Eltern zum ersten Mal seit Jahren das Bett teilten, nicht, weil sie ihre Streitigkeiten beigelegt hätten, sondern weil es sich um die letzte Habe im Haus handelte, die ihnen außer den Pfeifen seines Vaters und dem Schrein geblieben war. Das Geld war knapp, und sein Vater hatte kleinere und größere Dinge verkauft, Erbstücke, Kleider und Möbel. Im jetzt so geräumigen Zimmer kamen seine Eltern ihm und einander wie Fremde vor, angezählte Fremde, die keine Ansprüche zu stellen und nichts zu sagen hatten. Vater hatte eine Pfeife aufs Bett gelegt. Auf einem Tablett stand eine Lampe, die sich auf der klumpigen Matratze gefährlich schief neigte. Nahm er einen Zug, schienen seine Wangen einzufallen. Er war schrecklich mager geworden, und Lee fand, dass sein Vater kaum noch einem Menschen glich. Er war zu einer Pfeife geworden, an der Kopf, Arme und Beine hingen, vielleicht auch zu einem leblosen Gegenstand, einem knorrigen Holzstück, einem Gehstock, einer polierten Statue. Er war ein Insekt, möglicherweise ein gefährliches Insekt, ein Sukkubus mit vertikalen Augenschlitzen und inneren Antennen. Selbst die Geräusche, die er von sich gab, waren Insektengeräusche, klickende, saugende Laute. Lee fand es höchst interessant, dass die Verwandlung des Vaters so schleichend vor sich gegangen war; seine Familie hatte überhaupt nichts davon bemerkt. Wann genau hatte er aufgehört, ein Mensch zu sein? War die Verwandlung dauerhaft oder würde er sich eines Tages zurückverwandeln und sein natürliches Äußeres wieder annehmen? Während Vater rauchte, lag Mutter mit geöffneten Augen auf dem Rücken und kniff mit der rechten die Finger der linken Hand. Und obwohl sie kein Wort sagte, gelang es ihr so auszusehen, als sei sie mit ihrer Umgebung und dem Mann, der neben ihr lag, enorm unzufrieden. Lee stieg zu ihnen ins Bett, kehrte seinen Eltern den Rücken zu und schlief. Er träumte, er sei eine Waise, die auf einem von Drachen bewohnten Berg hauste. Da gab es kein Essen und kein Wasser, weshalb er, um überleben zu können, darauf angewiesen war, dass ihm ein Drache Fleischstücke und etwas Obst brachte. Die Jahre vergingen, und er wurde größer, doch je größer er wurde, desto mehr schien sein Drachenbeschützer dahinzuschwinden, bis ihm eines Tages auffiel, dass sein Freund, der Drache, nur noch ein lebendes Skelett war, ein filigranes Netz zusammenhängender Knochen ohne Fleisch, Blut und Atem. Eines Morgens wachte er dann auf und fand an seiner Seite ein Häuflein zerbrochenen Gebeins; dann spürte er ein Grollen und begriff, dass sich der Berg unter seinen Füßen erhitzte, Rauch aus Rissen quoll, Bäume zu Asche zerfielen und die Sonne vom Himmel verschwand. Er beschloss, den Berg zu verlassen und so lange zu laufen, bis er starb oder etwas zu essen fand, doch kaum hatte er einen Fuß vor den anderen gesetzt, begann es überall um ihn herum Ruß zu regnen. Er rannte schneller und immer schneller, bis er erschöpft zu Boden fiel, um zu trauern und zu sterben. Laute Trommelwirbel weckten ihn. Der Nebel war so dicht, dass er kaum zu atmen vermochte. Sobald sich seine Augen daran gewöhnt hatten, erkannte er, dass er im Haus seiner Eltern war. Ebenso gut hätte er noch draußen sein können, da das Wetter ins Haus gedrungen war. Er hörte es klopfen und taumelte umher, konnte im Nebel aber nichts sehen. Ihm tränten die Augen, und sooft er nach Luft rang, musste er husten. Langsam ging er auf das Klopfen zu und sah schließlich eine Gestalt näherkommen, eine Gestalt, die ihn zurück aufs Bett drängte. Seine Angst legte
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