Narcopolis
Entdeckung. Das Porzellan wurde vom Forscher Zheng He auf der letzten seiner sieben Weltreisen in die Vereinigten Staaten gebracht. Als der junge Cherokee die winzige Messingmedaille im Licht der untergehenden Sonne genauer in Augenschein nehmen will, endet abrupt der erste Teil.
Der zweite Teil wird aus dem Blickwinkel des Assistenten eines chinesischen Schiffsbauers erzählt. Er gehört zu den abertausend Männern, die nach Anweisungen des Kaisers eine Dschunke bauen, das Flaggschiff einer Flotte. Seitenweise werden Schiffbaudetails abgehandelt und kontroverse Ansichten über das beste Holz vorgetragen, über ideale Lackbedingungen und Tungbäume, korrekte Unterweisungsmethoden für Tischler und darüber, wie man eine möglichst leichte Panzerung herstellt oder gewährleistet, dass die Räume unter Deck tatsächlich wasserdicht sind. Es gibt kenntnisreiche Bemerkungen zum einzigartigen Design der gewaltigen Dschunke, den genauen Dimensionen ihres enormen Hüttendecks sowie den geschickt angeordneten Vorratskammern. Kein Merkmal aber ist so revolutionär wie die Zahl der Masten, neun insgesamt, was traditionelle Schiffsbauer übertrieben finden. Es geht das Gerücht, dass die alten Schiffsbauer eifersüchtig sind, doch verlangt der Kaiser den Bau weiterer Dschunken; tausend Stück will er haben; da bleibt keine Zeit für Eifersüchteleien. Jeder Schiffsbauer im Land ist aufgefordert, beim Bau der neuen Flotte zu helfen. Im schlimmstmöglichen Augenblick jedoch, nachdem nämlich die Planung abgeschlossen und ein erster Teil des Flaggschiffs fertiggestellt wurde, stirbt der Meisterschiffbauer. Sein junger Assistent übernimmt, sein Name bleibt unerwähnt. Er arbeitet pausenlos, gönnt sich nur selten eine Mütze Schlaf und beginnt, als sich die Dschunke ihrer Vollendung nähert, mit fremder Stimme zu reden. Er spricht mit der Autorität des erfahrenen Seefahrers oder doch eines Mannes, der die Geheimnisse seetüchtiger Wasserfahrzeuge kennt und weiß, wie man jene Merkmale bestimmt, die ein Schiff einzigartig machen. Die Männer wenden sich an ihn, um ihre Anweisungen zu erhalten, obwohl ihnen seine Ideen radikal und nicht immer nachvollziehbar erscheinen. Es geht das Gerücht, der junge Assistent sei vom Geist des alten Schiffsbauers besessen. Woher wollte er sonst wissen, was er weiß? Der Assistent kümmert sich nicht um diese Gerüchte; er hat keine Zeit. Im fertigen Zustand ist die Dschunke einhundertfünfundvierzig Meter lang und achtundfünfzig Meter breit. An diesem Punkt der Geschichte – gegen Ende des zweiten Teils – vernimmt der Leser die Stimme des Autors, also die authentische Stimme von Lees Vater, die ihm sagt, dass die Dschunke viel größer war »als die
Santa Maria
, die gerade mal siebenundzwanzig zu neun Metern maß« und dass »Zheng He das Kommando über sechzig solcher sowie vieler kleinerer Schiffe mit mehr als siebenundzwanzigtausend Soldaten, Zimmerleuten, Dichtern und Ärzten führte, während Kolumbus kaum hundert Mann befehligte«. Dann stellt der Autor folgende kontroverse Behauptung auf: »Ich ziehe den Vergleich mit Kolumbus keineswegs leichtfertig, sondern mit Bedacht und Absicht, da ich der festen Überzeugung bin, dass Amerika siebzig Jahre vor Kolumbus vom Reisenden Zheng He entdeckt worden ist.«
Der dritte und kürzeste Teil ist in politischer Hinsicht besonders problematisch. Es geht darin um einen jungen Muslim namens Ma, geboren in einer Provinz an der Südwestgrenze. Der Junge wird von den Ming gefangen genommen, kastriert, umbenannt und zum Prinzendiener gemacht. Man bringt ihn an den kaiserlichen Hof, um ihn dort nach Art der Söhne des Himmels zu unterrichten. Sobald der Prinz dem Kaiser nachfolgt, beschließt er, seine Thronbesteigung mit der Ankündigung einzuleiten, dass die seit Jahren geplanten, doch niemals durchgeführten Seereisen nun endlich beginnen sollen. Er macht den muslimischen Eunuchen (jetzt Zheng He genannt) zum Admiral seiner Flotte und befiehlt ihm, ans Ende des Horizonts zu segeln, über die bekannte Erde hinaus, um den Ruhm der Ming zu mehren. Die Geschichte wird in der dritten Person erzählt, wechselt über weite Passagen aber zur Stimme des Admirals, der es sich nicht nehmen lässt, politische Vorhersagen zum Besten zu geben: »Der Kaiser hält China für den Mittelpunkt der Welt und sich selbst für den Mittelpunkt Chinas, folglich ist er auch der Mittelpunkt der Welt. Trotz all seiner Bemühungen, dies zu verbergen, leidet er an einem für
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