Narcopolis
vergraben ließ. Als sie dann wieder aufblickte, sah sie, wie seinem Mund durch die toten, unbeweglichen Lippen Worte entströmten, und diese Worte schienen wie in Rauch geschrieben, englische Worte, die sie mühelos entziffern konnte: Liebe mich, denn ich bin so arm und allein wie du.
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Sobald Dimple gegangen war, schloss Salim das Uhrengeschäft und ging zu seinem Boss, um die Tageseinnahmen abzuliefern. Das Haus des Lalas lag abseits der Hauptstraße in einer Gasse, tief im Gassengewirr, und wurde von jungen Männern mit Revolvern beschützt. Salim dachte über Freiheit und Furcht nach. Die Stadt brannte; vielleicht hatte Dimple recht, vielleicht war dies wirklich das Ende der Welt, was bedeutete, dass es nichts mehr zu fürchten gab. Nichts war mehr wichtig. Und wie er an Dimple dachte, überkam ihn erneut eine Woge der Zuneigung und Melancholie. Als er Lalas Zimmer betrat, hielt sein Boss gerade ein Treffen mit anderen Bossen ab; Männer in paschtunischen Gewändern saßen im Kreis und tranken Whisky und Tee. Salim stellte die Geldtasche neben Lalas Sessel ab und wartete, bis der ältere Mann die Tasche an sich nahm. Der Lala redete mit seinen Freunden über Chemical, erzählte, es sei so stark, dass sein Versuchskaninchen, der deutsche Junkie Eckhardt, an einer Probe gestorben sei. Die Männer lachten. Das Karnickel hat’s verdient, sagte irgendwer. Er wollte sterben, sagte der Lala, ebenfalls lachend. Salim hatte Eckhardt gekannt und gemocht. Es hatte ihn immer überrascht, wie sich der Deutsche einen Schuss setzte: Er stach sich die Nadel direkt durch die Jeans in den Schenkel und benutzte dieselbe Nadel so lange wie irgend möglich. Es schien ihm zu gefallen, wenn die Leute entsetzt reagierten, sogar die Junkies, obwohl sie ihm alle zusahen und ihn fragten, warum er das mache. Die Antwort lautete stets gleich: Was denn? Ist doch klar. Weil ich eh keine verdammte Vene finden kann. Auf Eckhardts Oberschenkel prangte das Tattoo eines Haschischblatts, das er sich eines Tages mit einem Rasiermesser abschabte, weil es, wie er behauptete, ein satanisches Symbol sei, das ihm Gott eingeätzt habe, um ihn zu ärgern. Eckhardt mochte verrückt gewesen sein, war aber zu Salim stets höflich gewesen, weshalb er es bedauerte, vom Tod des Mannes zu hören. Er ging zurück zum Uhrengeschäft und schniefte eine lange Line Chemical von einem sauberen Streifen Alufolie. Dann steckte er sich eine Four Square an und rundete das Heroin mit ein paar Zügen Tabak ab. Gerade als er daran dachte, für den Tag Schluss zu machen und den Laden zu schließen, spazierte der Lala in sein Büro, bog Salim wortlos über den Schreibtisch und zog ihm die Pyjamahose herunter. Auf dem Tisch steht Kokosnussöl, sagte Salim. Statt einer Antwort stieß der Lala noch härter zu, und Salim spürte, wie ihm im After etwas zerriss. Die Hände des Lalas umklammerten Salims Hals, pressten ihn nach unten, riesige Hände, die ihn kaum Luft bekommen ließen. Dann sah Salim sein Taschenmesser auf dem Tisch, nur wenige Zentimeter entfernt. Er klappte es auf, langte nach hinten und schnitt dem Lala mit zwei, drei raschen Hieben den Schwanz ab. Erst blutete es gar nicht, man sah nur rote und weiße Fleischfetzen, dann aber ergoss sich eine Fontäne auf den Boden. Der Lala starrte den Penisstumpf sekundenlang starr an, dann brüllte er los. Salim stach dem großen Mann das Messer in den Hals, aber nichts geschah, er schrie weiter. Erst als Salim die Geldkassette nahm und sie dem Gangster über den Schädel zog, hielt er den Mund. Salim hämmerte so lange auf den Kopf des Lalas ein, bis dieser zu Brei wurde. Dann schleppte er den Leichnam in die Gasse hinterm Laden, wischte den Boden im Büro auf, schloss ab und ging nach Hause.
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Es war der schreckliche Januar des Jahres 1993 ; der Leichnam des Lala lag unbeachtet in den Straßen der Stadt, einer von vielen. Allerdings ahnte Salim, dass sich herumsprach, was dem Lala widerfahren war, da man ihn, Salim, gesehen hatte, wie er blutbesudelt aus dem Laden kam. Er rechnete mit Besuch von der Polizei, aber die kam nie. Als die Stadt vier Monate später zu einer Art Normalität zurückgefunden hatte, wurde er für einen Raubüberfall verhaftet, von dem er nicht das Geringste wusste. Im Laufe des Verhörs, das anderthalb Tage dauerte, gestand Salim den Mord an dem Lala sowie einen Auftragsmord an einem Filmproduzenten. Anschließend beging er Selbstmord, indem er sich mit dem eigenen Gürtel
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