Narcopolis
erhängte, zumindest laut Polizeibericht. Sein Leichnam wies Verletzungen auf, die er sich kaum selbst beigefügt haben konnte, doch besaß er keine Familie, und niemand holte seine Überreste ab. Die Polizisten, die das Verhör durchgeführt hatten, waren Freunde und Geschäftspartner des Lala, die sich nach dem Verhör gar nicht erst damit aufhielten, die aufgeschürften Fäuste und blutigen Schuhe zu verbergen. Im Topaz, einer von Polizisten frequentierten Bierkneipe, wurden an diesem Abend noch viele Gläser zu Ehren des Lala gehoben und auf die tapferen Männer angestoßen, die ihn gerächt hatten.
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Am ersten Weihnachtstag ging Dimple wieder in die Kirche. Drinnen hatte sich eine kleine Gemeinde versammelt, arme Leute, die einen Ort zum Ausruhen suchten, einen Ort, an dem sie nicht befürchten mussten, überfallen zu werden. Sie sahen erschöpft aus. Dimple wollte beten, kannte aber nur ein Gebet zur Jungfrau Maria, was sie mehrere Male wiederholte, obwohl es ihr nicht richtig vorkam. Auf dem Heimweg, vorbei an leeren Trümmerstraßen, bemerkte sie eine lose Ansammlung von Männern. Aus irgendeinem Grund standen sie alle auf derselben Straßenseite, als gäbe es eine unsichtbare Linie, die sie nicht zu überqueren wagten. Dimple blieb aber erst stehen, als ihr ein Mann in den Weg trat, ein Betrunkener mit tief in die Stirn gezogenem Kopftuch. Er kaute Paan, und auf seinen Lippen lag die Andeutung eines Lächelns, doch waren die Augen dermaßen blutunterlaufen, dass Dimple sich fragte, ob er an einer Bindehautentzündung litt. Er sagte nur ein Wort. »Naam?« Das war das Signal für die übrigen Männer, sich um sie zu sammeln und sie zu begutachten, wie man einen seltenen Vogel betrachten mochte, einen Vogel mit menschlichen Händen und den Brüsten einer Frau. »Dimple«, sagte sie und blickte dem Betrunkenen in die Augen. »Christin?«, fragte der. Ohne zu zögern, erwiderte sie: »Ja.« Der Mann spuckte ihr einen Strahl Betelsaft vor die Füße; ein paar rote Tropfen trafen ihre Sandalen. »Nikaal«, fauchte er dann mit ruckhafter Kopfbewegung, und sie eilte davon. Sie dachte: Hätte ich eine Burka getragen, hätten sie mich nicht verschont; das Kleid hat mir das Leben gerettet. Doch ehe sie die Abzweigung zur Shuklaji Street erreichte, hörte sie Geschrei, blieb stehen und spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Die haben ihre Meinung geändert, dachte sie, aber die Rufe galten einem Jungen auf seinem Fahrrad. Es war Jamal, und Dimple begriff, dass er ihr gefolgt sein musste, vermutlich schon seit geraumer Zeit. Einer der Männer hielt das Fahrrad fest, ein anderer packte den Jungen an der Kurta. Sie konnte nicht hören, was gesagt wurde, aber sie sah den Gesichtsausdruck des Jungen und auch, dass er sich zu befreien versuchte. Dann hörte sie sich, wie sie etwas rief. Sie war nur noch ein, zwei Schritte von der Sicherheit der Shuklaji Street entfernt, hätte aber ebenso gut in einem anderen Land sein können. »Hört auf!«, rief sie. Die Männer schauten in ihre Richtung. Jamal zeigte auf sie und sagte etwas, etwas Entschiedenes, denn man ließ ihn gehen. Er rannte direkt zu ihr hinüber. »Nicht rennen«, sagte sie, »nicht rennen, was auch passiert.« Sie fasste ihn bei der Hand und ging langsam mit ihm nach Hause.
Was hatte er den Männern gesagt? Jamal wollte es ihr nicht verraten. Doch von da an grüßte er sie, wenn er sie auf der Straße oder der Treppe sah, was ihr viel bedeutete, ein Durchbruch, etwas, auf das sie endlich stolz sein konnte.
10 Geständnis
Etwa um diese Zeit, als die Stadt sich selbst auslöschte und der Geruch nach verkohltem Fleisch in der Luft hing, erzählte ihr Rumi, wie er jemanden umgebracht oder doch fast umgebracht hatte. Er musste seinen Onkel zum Flughafen bringen und wurde unterwegs, irgendwo in Bandra East, angehalten, weil er, wie er erzählte, bei Rot über eine Ampel gefahren war. Das passierte ihm zum ersten Mal seit vielen Jahren. Der Polizist wollte seinen Führerschein sehen, aber natürlich hatte er ihn ausgerechnet an diesem Tag zu Hause vergessen. Statt sich zu erklären oder auf eine Diskussion einzulassen, reichte er dem Polizisten einfach einen Schein und dankte ihm auf Marathi. Fast so, als würde er einen Strafzettel bezahlen. Sein Onkel blieb derweil stumm. Erst als Rumi den Motor wieder anließ, hielt ihm Angre eine Strafpredigt. Er sagte: Einen Beamten zu bestechen ist das Schlimmste, was ein Inder machen kann. Du förderst ein
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