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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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Gürtel und hielt ihn beidhändig, wie er es so oft geübt hatte. Er kannte das Geräusch schon, mit dem er aufschlagen würde, den genauen Laut, mit dem das Metall in die Wange des Mannes krachte, den Ton brechender Knochen. All das wusste er bereits, nur war er nicht auf das Glücksgefühl vorbereitet, das ihn von den Händen bis ins Hirn durchzuckte, und, als er sich umwandte, auf den ersten panischen Blick im Gesicht des Schlafenden, der gerade wach wurde und vor Angst irgendwas blubberte, Rumi anflehte, ihm nicht weh zu tun.

11 Flucht
    An diesem letzten Tag – dem Tag des Wolkenbruchs, des Wassers in grünen und braunen Fluten unter dahintrudelnder Abfallmembran, Straßen und Häuser überschwemmt, die Stadt in den ursprünglichen Zustand eines Sumpfes rückverwandelt, von verseuchtem Regen genährt, ein Ort für Mangroven und Unterwasserleben, nichts für menschliche Besiedelung; an jenem Tag, als das städtische Netz von Angebot und Nachfrage zusammenbrach und es unmöglich wurde, Eier oder Kaffee aufzutreiben, geschweige denn die Drogen, die ich wollte; als endlich alles geregelt war, als ich das Viertel verließ, die Wohnung, die Sucht, als ich ging, um nicht wiederzukehren – an diesem letzten Tag zeigte sich mir die Stadt zum Abschied wie das wahre Abbild meines ausradierten Selbst: ein Objekt des Verfalls, das nur Mitleid verdiente, auf jede Weise der Welt verschlossen.
    •••
    Die Stadt nahm sich vom Meer sieben Inseln. In der Regenzeit holte das Meer sie sich zurück. Zwei Tage lang war der Himmel wie aus Eisen, am dritten ergoss sich der Regen in jede Ritze. Eine Woche lang regnete es ohne Unterlass. Ich sah nach den schwarzen Milanen, die in der Kokospalme unterhalb meines Fensters im vierten Stock lebten, stützte mich mit beiden Händen aufs Fensterbrett und lehnte mich hinaus, bis ich sie sah, die beiden großen Vögel, wie sie dort kauerten, elend im Dauerregen. Dann ging ich von Zimmer zu Zimmer. Die Schlafzimmerwand zierte ein Fleck, eine hüfthohe Verfärbung, wo Wasser ins Mauerwerk gedrungen war, und obwohl außer Staub nichts weiter auf dem Fußboden lag, saß ich genau an der Stelle, an der mein Sessel gestanden hatte. Das war es, was ich tat, ich lehnte mich hinaus oder hockte drinnen, und ich wartete auf einen Anruf von der Fluggesellschaft. Aber das Telefon klingelte nicht, also ging ich auf die regenglänzende Straße. Ich gehe, dachte ich, dies ist das letzte Mal. Und da ich ging, wollte ich großzügig zur Stadt sein; ich meinte, den Wind durch die desolaten Straßen wehen zu hören, einen sauberen Wind, ganz unvorstellbar inmitten dieses Verfalls. Dann spürte ich, wie sich ein Gewicht auf meine Brust senkte, und in ebendem Moment war ich mir sicher, nie vom chaotischen, obsoleten Bombay freizukommen, nie von meiner geliebten Lüge freizukommen, dass das Heroin nur ein Fehltritt war, ein letztes Mal. Ich dachte: Wie nah ist mein Glück und wie weit bin ich von jedem Verständnis entfernt.
    Im Bahnhof Bandra spielten gestrandete Pendler auf ihren Aktentaschen Karten. Die Waage stand stumm, auf ihrer Stellfläche schlief ein kleiner Junge mit offenem Mund. Ich sah, wie sich eine Bande Jungen stritt, kaum älter als zehn. Sie hörten nicht auf, bis ein Polizist kam und mit dem Lathi zuschlug, immer wieder. Selbst der Anblick des eigenen Blutes brachte sie nicht auseinander. Ich sah eine Frau mit Gipsbein, wie sie mit ihrer Krücke an die Waage schlug, um den Jungen auf der Stellfläche zu wecken. Sie verscheuchte ihn, setzte sich und steckte sich eine Beedi an. Ich sah drei kleine Kinder, wie sie sich unterm Vordach einen Stein zurechtlegten, um darauf Zwiebeln fürs Mittagessen zu schnippeln. Sie waren so selbstversunken auf ihre Aufgabe konzentriert wie die Meister einer großen, sterbenden Kunst. Vielleicht habe ich Rumi dort gesehen, wenn nicht, dann unweit davon, unter dem Vordach von Bahnsteig Eins; vielleicht schaute er auch in die andere Richtung, blickte hinüber zum Meer und zur Bandstand-Promenade; ich weiß es heute nicht mehr, doch stand er da im Unterwasserlicht mit Bügelfaltenhose und weißem Hemd, hielt den Kugelschreiber senkrecht, keine Farbe an dem Mann, nur ein safrangelbes Tilak auf der Stirn gleich unterhalb des rasierten Haaransatzes. Er gähnte wie ein Alter, musterte mich mit wässrigem Blick und sagte: verrückte, verfluchte Stadt. Dann setzte er hinzu, den Dealern ginge die Maal aus, weshalb wir zum Bombay Central fahren müssten, doch rührte er sich

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