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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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mitbekam. Als vier, fünf Tage nach Beginn der Einnahme die schlimmsten Entzugserscheinungen vorüber waren, wurde das Medikament wieder abgesetzt. Zwei Wochen lang litt sie unter Diarrhöe, und einen Monat lang konnte sie nicht schlafen, keine Minute, lag wach auf der Turkey-Matte und wartete auf die Morgendämmerung. Das Center befand sich im obersten Stock des Kirchengebäudes, und um vier Uhr morgens hörte sie die Vögel auf dem Dach. Dann wurde es hell, die Patienten wachten auf, und der Tag begann. Um sechs Uhr war Yoga. Alle Turkeys mussten mitmachen, erzählte ihr ein Patient; das sei Pflicht. Nach dem Yoga gab es Frühstück: zwei Spiegeleier, zwei Scheiben Toast, Marmelade, Butter und Tee mit Milch. Anschließend begannen die morgendlichen physiotherapeutischen Einheiten, anderthalb Stunden fegen und wischen. Jede Woche fegten sie die Kirche, in der das Center untergebracht war, die Kirche Mount Carmel, in der einmal im Jahr das Fest zum Gedächtnis der Schmerzen Mariens gefeiert wurde. Danach duschten die Turkeys, zumindest die meisten. Die neuen Turkeys, die noch keine Berührung mit Wasser vertrugen, gingen direkt zum Morgenkreis. Jeden Tag fanden zwei Hausversammlungen statt, geführt von jenen Patienten, die am längsten clean waren. Bei Dimples erster Versammlung wurde ihr von dem Typen, der das Sagen hatte, ein älterer Katholik namens Carl, eine Frage gestellt. Sie stand immer noch unter den Nachwirkungen des Chlorpromazin, weshalb ihr das Lügen schwerfiel. Die einzige Lüge, die sie im Kopf behalten konnte, war die Lüge, die ihren Namen und ihr Geschlecht verbarg. Als Carl sie fragte: Warum nimmst du Drogen?, sagte sie daher, was sie dachte, sagte die Wahrheit, denn das mindeste, was eine solche Frage verdiente, war eine ehrliche Antwort. Sie sagte: Ach, wer weiß, es gibt so viele gute Gründe, und keiner redet darüber, aber das Wichtigste, worüber niemand redet, ist, wie tröstlich sie sind, die Drogen, und wie gut es tut, ihr Sklave zu sein, diese Regelmäßigkeit der Suchtgewohnheiten, die Tatsache, dass sie wie ein Gegenmittel zur Einsamkeit wirken und wie sie zu deiner Familie werden, die Drogen, dir mütterliche Liebe gewähren, Schutz und das Gefühl von Sicherheit. Carl, der sich bemüßigt fühlte, ihr moralisch überlegen zu bleiben, und seine Stellung als Leiter dieser Veranstaltung bedroht sah, sagte: Aber es gibt gute und schlechte Gewohnheiten. Drogen gehören zu den schlechten, warum also nimmst du sie? Weil, erwiderte Dimple, wir nicht vom Heroin abhängig sind, sondern vom Drama des Lebens, von seinem Chaos; darin liegt die wahre Abhängigkeit, über die wir nie hinwegkommen, denn angesichts der begrenzten uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gibt es im Grunde nichts Besseres als das ständige High, das berauschte Leben – warum sollten wir uns also für etwas anderes entscheiden? Als sie aufblickte, sah sie, wie Carl sie aus zusammengekniffenen Augen anstarrte, weshalb sie, als er sie in einem Ton, der Widerstreben, wenn nicht gar Feindseligkeit anklingen ließ, bat, doch fortzufahren, sagte, es gehe ihr nicht besonders und sie habe nichts mehr zu sagen.
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    Sag, wandte sich der Dealer an Rumi, war sie, die Sängerin, eine Muschi oder eine Fotze? Eine Fotze, erwiderte Rumi, sind sie doch alle, aber im selben Moment stürzte jemand ins Zimmer, ein Mann so schwarz, er hätte Afrikaner sein können, mit einem roten Mund, aus dem es nach Schweiß und Jauche roch, weshalb Rumi eine Sekunde lang glaubte, er sehe den Teufel in seiner wahren Gestalt, schwarz und finster, wie er nach Gesellschaft suchte, oder den Teufel, wie er gerade den Flammen der Hölle entstieg, der rote Mund allzeit bereit, in Gelächter auszubrechen, aber es war Shakoor. Er bot Proben neuer Maal an. Umsonst, sagte er, wer versucht es als Erster? Der Zuhälter öffnete die Augen und sagte: Ich, ich versuch’s, und ehe Rumi auch nur einen Ton sagen konnte, hatte der Zuhälter den Löffel erhitzt und sich den Arm abgebunden. Er stach sich die Spritze in die verbrauchten Adern, konnte aber kein Blut ziehen, und je tiefer er grub, desto frustrierter wurde er. Shakoor gab Rumi ein Röhrchen, also schüttete er ein bisschen vom Pulver auf den Tisch, schniefte und spürte, wie sein Körper schlaff wurde, sein Herz runterfuhr, spürte sogar, wie sich das Herz ausdehnte, stillstand und aufs Neue zu schlagen begann. Er taumelte auf die Toilette, ließ Wasser in die Nase fließen und spuckte vom Pulver so

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