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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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ihre tausend unkenntlichen Farben älter als der des Mädchens, so alt, dass er nur auf eigene Gefahr ignoriert werden konnte. Das Mädchen, kaum dreizehn oder vierzehn Jahre alt, setzte den Hut ab und legte ihn behutsam auf den Boden. Dann lüpfte sie das Kleid oder den Hänger, ein leichtes Baumwollgewand mit Blumenmuster, hockte sich über den Hut und füllte ihn mit Blut oder Scheiße, jedenfalls mit irgendwas, das schwarz aussah und den Rand des umgedrehten Hutes verkrustete. Darauf begannen Worte wie Untertitel über den unteren Bildschirmrand zu flimmern, und die schattenhaften Gestalten, die den Rand des Bildausschnittes umdrängten, rückten in die Mitte vor, auf das Mädchen zu, dessen Haut weiß war und rosa. Die Kamera konzentrierte sich auf ihr Gesicht, auf ihre Blütenblattlippen, die deutlich sichtbar die Frage
Was
formulierten, doch die Untertitel am Rand des Fensters oder Bildschirms besagten etwas völlig anderes: »Du warst namenlos und heidnisch. Ich lieferte den Zusammenhang. Zweihundert Jahre lang lieferte ich den Zusammenhang, und was war dein Dank?« Da zogen sich die Brauen des Mädchens zu einem umgekehrten V zusammen und lautlos formten die Lippen das Wort
Nein
. Kaum war ihr das Wort über die Lippen geschlüpft, wurde sie von den Schatten überrannt, die, als sie ins Licht drangen, sich als ethnische Kirchengestalten mit weißen oder safranfarbenen Roben erwiesen, andere trugen Scheitelkäppchen, wieder andere konische Hüte zu zerschlissenem Purpur. Nur Minuten später hob eine der purpurnen Gestalten die Soutane, um eine große braune Wampe und einen schwarzen, von grauem Gezottel umwucherten Penis zu entblößen. Er tunkte eine Hand in den Hut, um sich zu beschmieren, und bald machten es ihm die anderen Gestalten nach. Die Kamera fiel zu Boden, als würde die Person, die sie hielt, angegriffen oder beteiligte sich nun an dem Geschehen, das er oder sie bislang gefilmt hatte, und als die Kamera wieder aufgehoben wurde, zeigte sie eine Nahaufnahme von einem Penis, der überaus langsam in den Anus des Mädchens fuhr, woraufhin zwei Worte über den Bildschirm glitten, Worte, die mit jedem Stoß wiederholt wurden, wobei der Penis bis zur Hälfte in der kleinen Öffnung des Mädchens verschwand; dann folgte eine Nahaufnahme von ihrem Gesicht, das eher blöd dreinsah als Schmerzen verriet, und wieder tauchten die Worte auf, diesmal in Anführungen, »Tradition« und »Werte«, während die Kamera zum Priester schwenkte, dessen Gesicht vor Spucke und Schweiß glänzte, und die Worte, die er sprach, bedurften keiner Untertitel, sie wurden synchronisiert und waren deutlich zu verstehen: »Dies ist Indien«, was Dimple aufwachen ließ; ihr Herz raste derart, dass sie zu sterben meinte, der Gedanke an den Tod aber war ihr plötzlich ein Trost.
    •••
    Am dritten Tag, es mag auch der zweite gewesen sein, brachte man ihn nach unten in ein Zimmer, in dem ein Anwalt saß, ein Muslim, der ihm sagte, für die Kaution sei gesorgt, doch wolle man mit ihm etwas Neues wagen, man lasse ihm die Wahl zwischen Reha und Gefängnis. Tja, Mr Advokat, da bieten Sie mir ja eine tolle Wahl, erwiderte Rumi, besten Dank auch. Er fischte eine Streichholzschachtel aus der Tasche, öffnete sie, holte eine halbe Beedi heraus, steckte sie an und nahm einen tiefen Zug. Als er ausatmete, zuckte der Muslim zusammen, so stark war der Geruch. Danke, danke, danke für nichts und wieder nichts, sagte Rumi. Gefängnis oder Freiheit, das nenne ich eine Wahl, Reha oder Garad, das wäre eine Wahl, aber Reha oder Knast? Das ist, als müsste man sich zwischen Tod und Sterben entscheiden. Nein, das nehme ich zurück, eher zwischen Syphilis und Gonorrhö. Ich weiß, was ich wählen würde, warf der Muslim ein. Das weiß ich auch, sagte Rumi, aber es wäre die falsche Wahl. Wissen Sie was? Als man mich herbrachte, dachte ich, jetzt ist alles vorbei. Ich dachte, man würde mich auf der Stelle fertigmachen, mich erdolchen oder erwürgen, irgendwas, nur weil ich Hindu bin. Ich dachte, der Knast steckte voller Muslime, und ich stünde am unteren Ende der U-Haft-Hierarchie. Nun, ich bin am unteren Ende, aber nicht, weil ich ein Hindu bin. Ist das zu glauben? Der Muslim erwiderte nichts. Ich habe mich gefragt, was es bedeutet, dass ein Garaduli auf der untersten Sprosse der Leiter steht, tiefer als ein Lumpensammler oder Dieb. Wie kann das sein? Ich habe einen Killer gefragt, der hinter Gittern sitzt, weil er einen Auftragsmord an einem

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