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Narcopolis

Narcopolis

Titel: Narcopolis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeet Thayil
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mit viel Eis. Er sagte: Zur Dämmerung weckte sie mich auf. Wir zogen rasch ein paar Lines und stiegen in die Limo. Ich fahre am Meer entlang; es ist noch dunkel, die Straßen sind still und schön, ehe die Freaks und Penner ihren täglichen Scheiß abziehen – ist doch so –, der Ozean zur Rechten, und da sagt sie mir, ich solle das Schiebedach öffnen, und sie fängt an zu singen, so laut, ihr würdet nicht glauben, dass eine so mächtige Stimme aus einer so kleinen Frau kommt, und plötzlich ist mir alles klar, wisst ihr? Die Worte waren auf Deutsch, aber ich hab’s kapiert, hab verstanden, warum es die Oper gibt. Ich begriff, dass sie der wahre Ausdruck der Trauer ist. Ich begriff, warum sie stehen und ihr Gesicht himmelwärts wenden musste, als überbringe sie ihre Trauer Gott, der sie zu verantworten hatte. Und einen Moment lang begriff ich auch, was es bedeutete, Gott zu sein, jemandes Leben zu nehmen, es abzustreifen wie die Asche von einer Beedi. Ich dachte an ihr Leben, ihr sinnvolles Leben, und wollte es ihr nehmen ohne allen Grund. Ich fuhr den großen Wagen so gut wie nie zuvor; es wurde hell, nahebei das saubere Wasser, und ihre Stimme stieg zum Himmel auf. Ich wollte, dass sie nie wieder aufhörte, für mich zu singen. Ich dachte, solange sie singt, fahre ich immer weiter.
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    Rumi erzählte die Geschichte auf dieselbe Art, wie er auch über die Freeways von Kalifornien gefahren war, als wäre er auf Autopilot und mit den Gedanken woanders. Wo genau? Woran dachte er, als er von der Sängerin erzählte? Seine Gedanken waren nicht bei der hohen Stimme, die sich in den Himmel aufschwang und Gottes Ohr zu erreichen versuchte, sondern unten auf der Erde, bei einem Paar Cowboystiefel, um genau zu sein, einem Paar Tony-Lamas-Straußenlederstiefel, dem schönsten Paar, das er je besessen hatte, und ihm gehörten so einige. Die Opernsängerin bat, bei einem Diner anzuhalten, sie brauchte was zu essen, sonst würde ihr Zuckerspiegel absacken. Also hielten sie an einer rund um die Uhr geöffneten Raststätte, Toast, Eier und Bier für ihn, pochiertes Ei mit Speck und Kaffee für sie. Im Restaurant hingen gerahmte Bilder von toten Musikern an den Wänden, aber nur von solchen, die jung von uns gegangen waren; Musikern, die im reifen Alter eines natürlichen Todes gestorben waren, kam nicht die gleiche Ehre zuteil. Es überraschte Rumi, wie viele Fotos es gab von wie vielen Musikern in wie vielen Musikrichtungen. Nach dem Frühstück setzte sie sich zu ihm nach vorn, rollte sich auf dem Beifahrersitz zusammen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er fuhr sie zum Mulholland Drive, wo sie ihm sagte, er müsse im Wagen warten. Er könne nicht mitkommen. Er wartete, hörte Nachrichten im Radio und fand dann einen Rocksender, nur spielte der eigentlich keinen Rock, eher eine Art Sprechgesang, eine Roboterstimme, die irgendwas von Leichen berichtete, die in den roten Gassen des Mondes verrotteten, ihr Fleisch den katzengroßen Ratten überließen, die zum Fressen kamen, wenn die hundegroßen Katzen satt und verschwunden waren. Als der Song aufhörte, steckte die Sängerin den Kopf durchs Fenster und gab ihm die Stiefel. Wem gehören die?, fragte er. Einem Freund, sagte sie, einem Freund, der gestorben ist. Ich möchte, dass du sie bekommst. Rumi wollte keine Stiefel von einem Toten, aber als er sie anprobierte, passten sie, als wären sie eigens für ihn angefertigt worden. Diesen Teil erzählte er nie, wenn er die Geschichte von der Opernsängerin erzählte, die er durch die Berge um Los Angeles kutschiert hatte: Er behielt die Stiefel für sich.
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    Dimples neues Leben im Safer wurde von der Uhr bestimmt, und im Hospital zur Heiligen Familie unterzog man sie einem kompletten Check. Das Loch im Kinn sei nicht gefährlich, sagten die Ärzte, vorläufig jedenfalls nicht. Besser sei es, einfach abzuwarten, zuerst aber müsse sie den Entzug machen. Man setzte sie auf Chlorpromazin, das auf der Straße unter dem Markennamen Largactil vertrieben wurde, und erst Monate später fand sie heraus, wie umstritten dieses Medikament war, wie gefährlich, da es sich immer noch im Versuchsstadium befand. Sie jedoch tat, was man ihr sagte, schluckte die Tabletten, die ihr gegeben wurden, und versuchte, den Entzug zu überstehen. Vom Chlorpromazin halluzinierte sie so heftig, dass sie die Folterqualen nicht spürte, die ihr Körper durchlitt; sie war wie auf einem Trip, weshalb sie weder Schmerz, Panik noch Durchfall

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