Narcopolis
Hatte sie diese Erinnerung gestohlen? Vielleicht besaß sie ja doch keine eigenen Erinnerungen; vielleicht stahl sie die Erinnerungen anderer Leute, weil sie selbst keine besaß.
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In den ersten Tagen im Center sah Rumi nur jene zwei Insassen, denen man aufgetragen hatte, während des Entzugs bei ihm zu bleiben. Der Parse sagte, sein Name sei Bull; er war der Härtere. Der Katholik hieß Charlie und sagte, er sei Elektriker, ein Messerkämpfer. Sie wechselten sich mit dem Schlafen ab, so dass sie Rumi ständig im Auge behalten konnten. Als die Medikamente, die man ihm gab, in der zweiten Nacht wenig oder fast keine Wirkung zeigten und er auf die Wände eindrosch, erst mit den Fäusten, dann mit dem Kopf, rückten Parse und Christ sein Bett in die Zimmermitte und fesselten ihn mit Schnüren aus Nylon und Baumwolle. Immer wieder bat er um stärkere Medikamente, aber das Beste, was sie ihm geben konnten, war Diazepam in wirkungslosen Fünf-Milligramm-Kapseln. Schlechtes Timing, Mann, sagte der Katholik. Seit Soporo das Sagen hat, geht es hier anders zu; vorher hätte man dir die besten Medikamente verabreicht, Halluzinationen pur, aber Soporo hält den cold Turkey für den besten Turkey. Scheiß-Soporo, sagte Rumi. Der Parse lachte und hieb ihm in den Magen; der Schmerz war wie eine Erholung vom Entzug, also sagte er es noch einmal: Scheiß-Soporo. Diesmal lachte der Parse nur und sagte: Wenn du eine Rasierklinge hättest, würdest du dich damit aufschlitzen, stimmt’s? Scheiß auch auf dich, sagte Rumi und kotzte in seine Richtung, aber Bull, der Parse, tänzelte flink beiseite. Wenigstens, sagte er, hast du die richtige Einstellung.
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Er kam sich vor, als wäre er einem Kult beigetreten, denn den ganzen Tag lang hieß es Soporo dies, Soporo das; Geschichten, die er nicht hören wollte, schon gar nicht immer wieder: dass Soporo diesen Kerl entlarvt hatte, den ehemaligen Leiter des Centers, einen Mehrfachsüchtigen (Sex, Alkohol und Heroin), der direkt vor ihrer Nase Drogen genommen hatte, weshalb er in den Gesprächsrunden einnickte, und trotzdem hatte kein Mensch was geahnt, schließlich war er der Gesprächsleiter; dass Soporo ihn auf einer Veranstaltung der Anonymen Narkotiker zur Rede gestellt und gezwungen hatte, Farbe zu bekennen; dass er die Kuratoren drei Monate nach Übernahme der Leitung überredete, mehr Geld lockerzumachen, damit er ein weiteres Stockwerk von der Kirche mieten und einen Fitnessbereich sowie neue Gesprächszimmer einrichten konnte; dass zu seinen Reden alle möglichen Leute kamen, sogar solche, die in ihrem Leben noch nie was mit Drogen zu tun gehabt hatten, und dass er, Rumi, wenn es denn mit seiner Genesung gut voranginge, am Mittwochabend zu Soporos Vortrag mitkommen könne, der den Titel trug: »Das Ende der Zeit«. Mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, sagte Jean-Luc, ein französischer Junkie, der seit den Siebzigern in Indien lebte und von Opium zu Heroin zum synthetischen Opiat Tidigesic aufgestiegen war. Wollt ihr es hören? Dem Gerücht zufolge wird er darüber reden, wie Heroin die Vorstellung von der Zeit als eines logischen oder chronologischen Imperativs ad absurdum führt; außerdem über Miles Davis’ Album
Kind of Blue
, das ein Beispiel nicht von musikalischer Zeit, sondern von Heroin-Zeit sein soll; seine Thesen will er belegen, indem er ein paar Stücke vorspielt. Wo wird die Rede gehalten?, fragte Rumi. Ein Stück die Straße runter, sagte Jean-Luc, im Nebengebäude der Kirche. Wir brauchen einen größeren Raum als den hier, da die Leute in Scharen kommen, weiß auch nicht wieso. Und wie kommen wir dahin?, fragte Rumi. Zu Fuß, wie sonst? He, Turkey, rief Bull, der Parse, quer durchs Zimmer, willste getragen werden? Ja? Rumi saß zum ersten Mal am Mittagstisch, saß mit allen anderen zusammen und versuchte zu essen. Seine Hände zitterten so stark, dass er kein Glas halten konnte, er fühlte sich schwach, und ihm war speiübel, erst recht beim Anblick des Essens, vor allem der Zunge, die an diesem Sonntag aufgetragen wurde. Die Zunge sah aus wie eine menschliche Zunge und war ebenso rau, nur war sie vier-, fünfmal größer, rosiger und dicker und schwer zu kauen oder zu schlucken. Er sah zu, wie die Insassen sie herunterschlangen, und ihm kam es vor, als versuchten sie, die eigenen Zungen zu verschlucken und auf diese verrückte Weise Selbstmord zu begehen; eine Welle heißen Ekels vermischt mit Übelkeit überkam ihn. Er dachte: Ihr verdient es
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