Narkosemord
Radiologie hatte sie mit mehreren dicht aufeinanderfolgenden ventrikulären Tachykardien den Leuten den Schweiß auf die Stirn getrieben; alle hatten befürchtet, jeden Moment werde es zum Herzstillstand kommen. Es war fast ein Wunder, daß er nicht eingetreten war.
Inzwischen lag auch das Ergebnis des Kokaintests vor. Es war negativ. Die Untersuchungsergebnisse hinsichtlich anderer Rauschmittel standen noch aus, aber Kelly war ganz sicher, daß Gail keine Drogen nahm.
Das Team, das Gail auf die Intensivstation gebracht hatte, war noch da, als sie einen Herzstillstand erlitt. Die sofort eingeleitete Schockbehandlung stoppte zwar die Fibrillation, führte aber zum Herzstillstand, was bedeutete, daß keine elektrische Aktivität mehr zu verzeichnen war. Ein daraufhin sofort durch einen Leistenschnitt eingeführter Schrittmacher brachte zwar noch einmal so etwas wie eine Herztätigkeit in Gang, aber die Prognose war infaust.
»Ich habe ja schon eine Menge in diesem Job erlebt«, sagte O’Shea wütend. »Kanonen, Schnappmesser, ein Bleirohr. Aber einen Schuß Pfeilgift in die Hüfte gejagt zu kriegen, das ist mir wirklich noch nicht untergekommen. Und dann auch noch von einem Kerl mit Handschellen an den Flossen.«
Michael Mosconi konnte nur den Kopf schütteln. Devlin O’Shea war der fähigste Kopfgeldjäger, den er kannte. Er hatte Drogenpusher, Berufskiller, Mafiosi und kleine Eierdiebe aufgestöbert und in Handschellen zurückgebracht. Wieso er da mit diesem lächerlichen Knochenklempner solche Probleme haben konnte, kriegte er einfach nicht in den Kopf. Vielleicht wurde O’Shea langsam alt.
»Also, um das noch einmal klarzustellen«, sagte Mosconi. »Sie hatten ihn in Ihrem Wagen, in Handschellen?« Das Ganze klang wirklich verrückt.
»Ich sag’ doch, er hat mir irgendein Zeug gespritzt, das mich gelähmt hat. Von einem Moment auf den andern konnte ich plötzlich nicht mal mehr den kleinen Finger bewegen. Ich konnte nichts dagegen machen, nicht das Geringste, verstehen Sie? Der Bursche läßt die moderne Medizin für sich arbeiten.«
»Ja, und Sie lassen das seelenruhig mit sich geschehen«, knurrte Mosconi gereizt. Er fuhr sich nervös mit der Hand durch das schüttere Haar. »Vielleicht sollten Sie überlegen, ob Sie nicht besser die Branche wechseln. Wie wär’s, wenn Sie sich als Kaufhausdetektiv bewerben würden?«
»Sehr witzig«, sagte O’Shea, aber Mosconi konnte sehen, daß er das alles andere als lustig fand.
»Wie, glauben Sie, daß Sie mit einem richtigen Verbrecher fertig werden sollen, wenn Sie nicht mal einen schmalbrüstigen Narkosearzt schnappen können?« fragte Mosconi höhnisch. »Hören Sie, O’Shea, die Sache wird langsam brenzlig. Ich krieg’ schon jedesmal, wenn das Telefon klingelt, Herzklopfen, daß einer vom Gericht dran ist, um mir mitzuteilen, daß sie die Kaution verfallen lassen. Begreifen Sie eigentlich den Ernst der Lage? Nein, hören Sie auf, ich habe genug von Ausflüchten - ich will, daß Sie diesen Kerl schnappen.«
»Ich werde ihn schnappen«, sagte O’Shea. »Ich hab’ jemanden angeheuert, der seine Frau rund um die Uhr beschattet. Aber was noch wichtiger ist, ich habe ihr Telefon angezapft. Irgendwann muß er sich ja bei ihr melden.«
»Alles schön und gut, aber das reicht nicht«, erwiderte Mosconi. »Ich habe Angst, daß die Polizei das Interesse daran verliert, ihn am Verlassen der Stadt zu hindern. Devlin, ich kann es mir nicht leisten, diesen Burschen zu verlieren. Wir dürfen ihn nicht entwischen lassen.«
»Ich glaube nicht, daß er irgendwohin gehen wird.«
»Ach nein?« Mosconi sah ihn spöttisch an. »Ist das irgendeine neue wundersame intuitive Fähigkeit, die Sie plötzlich entwickelt haben, oder handelt es sich um reines Wunschdenken?«
O’Shea musterte Mosconi von seinem Platz auf Mosconis unbequemer Couch. Der Sarkasmus dieses Mannes begann ihm langsam auf die Nerven zu gehen. Aber er sagte nichts. Statt dessen beugte er sich vor, langte in seine Gesäßtasche und zog einen Packen Papiere heraus. Er legte sie auf den Schreibtisch, faltete sie auseinander und strich sie glatt.
»Der Doc hat diese Zettel in seinem Hotelzimmer liegenlassen«, sagte er und schob sie Mosconi zu. »Ich glaube nicht, daß er abhauen wird. Mehr noch, ich glaube, er hat irgendwas vor. Etwas, das ihn hier in der Stadt hält. Was lesen Sie aus diesen Papieren?«
Mosconi nahm eine Seite von Chris Eversons Notizen vom Tisch und warf einen kurzen Blick darauf.
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