Narkosemord
als Rhodes direkt auf die Bühne zulief und von der rechten Seite her hinaufstieg.
O’Sheas Neugier wuchs. Rhodes ging zur Mitte der Bühne. Er wandte das Gesicht zur Erfrischungsbude und begann zu sprechen. O’Shea konnte ihn zwar nicht hören, aber er konnte sehen, wie seine Lippen sich bewegten.
Von der Erfrischungsbude winkte Kelly Rhodes zu und reckte den Daumen in die Höhe. Was ging da vor? O’Shea runzelte verblüfft die Stirn. Rezitierte der Kerl jetzt Shakespeare, oder was? Und wenn ja, was machte dann Kelly? Sie hatte immer noch den Walkman auf. O’Shea kratzte sich am Kopf. Dieser Fall wurde von Minute zu Minute undurchsichtiger.
Trent Harding steckte sich seine .45er Automatic in den Gürtel, genauso, wie er es gemacht hatte, als er zu Gail Shaffer gegangen war. Die Spritze ließ er in seiner rechten Vordertasche verschwinden. Er schaute auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Zeit, daß er aufbrach.
Trent lief über die Revere Street hinunter zum Charles Circle. Um zum Charles-River-Uferdamm zu kommen, nahm er die Fußgängerbrücke direkt unterhalb der Longfellow Bridge.
Als er den von Granitbalustraden gesäumten Fußweg hinunterging, spiegelte sich auf dem Charles River zu seiner Rechten graurosa der Abendhimmel. Über ihm wölbte sich ein dichter Baldachin aus frisch ergrüntem Laubwerk.
Diese Geschichte mit Jeffrey Rhodes hatte ihn anfangs ganz schön fertiggemacht, da er nicht wußte, worauf der Mann hinauswollte. Seine Erpressungsdrohung hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen und fast aus den Schuhen gehauen. Aber nun, da er vorbereitet war, hatte sich seine Angst schon wieder beträchtlich gelegt. Er wollte seine Fotos wiederhaben, und er wollte sich die Gewißheit verschaffen, daß Rhodes auf eigene Faust handelte. Ansonsten interessierte ihn der Mann einen feuchten Dreck, und er würde ihm die Dröhnung verpassen, die er verdient hatte. Seit er mit eigenen Augen gesehen hatte, was mit Gail Shaffer passiert war, wußte er, daß die Spritze schnell und zuverlässig wirken würde. Irgend jemand würde einen Krankenwagen anrufen, und das würde es dann gewesen sein.
Zwei Jogger trabten im Halbdunkel an ihm vorbei, und einer streifte ihn leicht, so daß er einen Schreck bekam und zur Seite sprang. Er hätte nicht übel Lust gehabt, seine Pistole aus dem Gürtel zu ziehen und den Arschlöchern das Licht auszupusten. Er stellte sich vor, wie er breitbeinig dastehen würde, mit durchgedrückten Armen, die Waffe mit beiden Händen haltend, und dann ganz cool abdrücken würde wie Crockett in Miami Vice.
Vor ihm tauchte schemenhaft die riesige Halbkugel der Hatch Memorial Shell aus dem Halbdunkel auf. Trent näherte sich der Bühne von der nach außen gewölbten Rückfront her. Er spürte, wie ein angenehm prickelnder Schauer der Erregung durch seinen Körper rieselte. Er fieberte der Begegnung mit Dr. Jeffrey Rhodes jetzt regelrecht entgegen. Er griff unter die Jacke und legte die Hand um seine .45er. Sein Finger glitt um den Abzug. Es war ein erregendes, irres Gefühl. Rhodes würde sein blaues Wunder erleben.
Trent hielt inne. Er mußte eine Entscheidung fällen. Sollte er um die rechte oder die linke Seite der Hatch Shell herumgehen? Er versuchte sich die genaue Anordnung der Bühne vorzustellen und fragte sich, ob es irgendeinen Unterschied machen würde, von welcher Seite er käme. Er gelangte zu dem Schluß, daß er sich wohler fühlen würde, wenn er den Storrow Drive im Rücken hatte. Sollte er aus irgendeinem Grund einen hastigen Rückzug antreten müssen, nachdem er Rhodes erledigt hatte, dann wäre die Schnellstraße der günstigste Fluchtweg.
Jeffrey ging nervös auf und ab, wobei er sich rechts von der Mitte der Bühne hielt. Die Rollschuhläufer, die sich auf der kleinen Asphaltfläche zwischen der Bühne und der Wiese versammelt hatten, hielten sich ebenfalls auf der rechten Seite auf, und Jeffrey wollte so dicht wie möglich in ihrer Nähe sein, ohne Harding das Gefühl zu geben, daß sie mithören konnten. Zuerst hatten die Rollschuhläufer Jeffrey argwöhnisch beäugt, aber nach ein paar Minuten hatten sie das Interesse an ihm verloren, und jetzt beachteten sie ihn nicht mehr.
Was Jeffrey an dem Horchgerät am meisten verblüfft hatte, war, daß es das Rap-Geknatter gleichsam ignorierte. Jeffrey nahm an, daß es irgendwas damit zu tun hatte, daß sich der Apparat, aus dem es kam, seitlich von ihm und somit außerhalb des akustischen Schattens der
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