Narkosemord
finden, was ihn retten würde, aber es gab ihm doch ein Gefühl der Hoffnung, diese Aufzeichnungen zu besitzen. Vielleicht könnte er aus Chris’ Erfahrungen etwas lernen, das er selbst übersehen hatte.
Und obgleich er sich mit Bedauern von Kelly verabschiedet hatte, war er froh, so früh nach Hause zu kommen. Er beabsichtigte, die Papiere noch einmal durchzugehen und sich außerdem ein paar seiner eigenen Bücher einmal gründlich vorzunehmen.
3
Dienstag, 16. Mai 1989, 19 Uhr 49
Jeffrey hielt vor der Garagentür, stieg aus und streckte sich. Er konnte das Meer riechen. Marblehead war eine Halbinsel, die in den Atlantik hinausragte, und so war das Wasser nirgends weit. Er beugte sich noch einmal in den Wagen, zog den Aktenkoffer heran und hob ihn heraus. Dann warf er die Wagentür zu und ging zum Haus.
Er sah, wie schön alles ringsherum war. Singvögel zwitscherten fröhlich in den immergrünen Sträuchern auf dem Rasen, und in der Ferne schrie eine Möwe. Ein Rhododendron vor dem Haus stand in voller Blüte und Farbenpracht. In den letzten Monaten war er so sehr mit seinen Problemen beschäftigt gewesen, daß er den bezaubernden Übergang vom tristen Winter in einen herrlichen Frühling völlig verpaßt hatte. Zum erstenmal in diesem Jahr nahm er ihn jetzt wahr. Der Besuch bei Kelly tat immer noch seine Wirkung auf sein Gemüt.
Vor der Haustür fiel ihm sein Reisekoffer ein. Er zögerte kurz, aber dann beschloß er, ihn später zu holen. Er sperrte die Haustür auf und ging hinein.
Carol stand in der Diele, die Arme in die Hüften gestemmt. An ihrem Gesicht sah er, daß sie wütend war. Willkommen zu Hause, dachte er. Und wie war’s bei dir heute? Er stellte seinen Aktenkoffer hin.
»Es ist gleich acht Uhr«, sagte Carol mit kaum verhüllter Ungeduld.
»Es ist mir durchaus bekannt, wie spät es ist.«
»Wo warst du?«
Jeffrey hängte seine Jacke auf. Carols inquisitorisches Benehmen ärgerte ihn. Vielleicht hätte er ja anrufen sollen. Früher hätte er es wohl auch getan, aber dies waren beim besten Willen keine normalen Zeiten.
»Ich frage dich doch auch nicht, wo du warst«, erwiderte er.
»Wenn ich bis acht Uhr abends aufgehalten werde, rufe ich immer an«, erklärte sie. »Das ist einfach eine Frage der Höflichkeit.«
»Vermutlich bin ich kein höflicher Mensch«, sagte Jeffrey. Er war zu müde, um zu diskutieren. Er nahm seinen Aktenkoffer und wollte geradewegs hinauf in sein Zimmer gehen; er hatte keine Lust, mit Carol zu streiten. Aber dann blieb er stehen. Ein großer Mann erschien und lehnte sich lässig an den Rahmen der Küchentür. Auf einen Blick sah Jeffrey den Pferdeschwanz, die Jeanskleidung, die Cowboystiefel und die Tätowierungen. Der Mann trug einen goldenen Ohrring und hielt eine Flasche Kronenbourg in der Hand.
Jeffrey sah Carol fragend an.
»Während du unterwegs warst und Gott weiß was getrieben hast«, fauchte Carol, »konnte ich mich hier mit diesem Schwein von einem Kerl herumplagen. Und das alles deinetwegen. Wo bist du gewesen?«
Jeffreys Blick ging zwischen Carol und dem Fremden hin und her. Er hatte keine Ahnung, was hier los war. Der Fremde zwinkerte und grinste über Carols wenig schmeichelhafte Worte, als wären sie ein Kompliment.
»Ich wüßte auch gern, wo Sie waren, Sportsfreund«, sagte der Gorilla jetzt. »Wo Sie nicht waren, weiß ich schon.« Er nahm einen Schluck Bier und grinste wieder; anscheinend amüsierte er sich königlich.
»Wer ist das?« fragte Jeffrey Carol.
»Devlin O’Shea«, stellte der Fremde sich vor. Er stieß sich vom Türrahmen ab und trat neben Carol. »Ich und die niedliche kleine Frau hier haben stundenlang auf Sie gewartet.« Er wollte Carol in die Wange kneifen, aber sie schlug seine Hand weg. »Stachliges kleines Ding.« Er lachte.
»Ich will wissen, was hier los ist«, sagte Jeffrey.
»Mr. O’Shea ist der charmante Emissär von Mr. Michael Mosconi«, erklärte Carol erbost.
»Emissär?« fragte O’Shea. »Uuuh, das gefällt mir. Klingt sexy.«
»Warst du bei der Bank? Hast du mit Farnsworth gesprochen?« Carol ignorierte O’Shea.
»Selbstverständlich«, sagte Jeffrey, und plötzlich war ihm klar, weshalb O’Shea hier war.
»Und was ist passiert?«
»Yeah, was ist passiert?« echote O’Shea honigsüß. »Unseren Informationen zufolge war der Kontostand nicht wie vereinbart. Das ist sehr bedauerlich.«
»Es gab ein Problem…«, stammelte Jeffrey. Auf ein solches Verhör war er nicht
Weitere Kostenlose Bücher