Narkosemord
fliehen. Und jetzt stand er hier auf einer Veranda in Brookline und war im Begriff, mit einer attraktiven, empfindsamen, entwaffnend offenen Frau ein Abendessen zu grillen. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Dann erkannte er mit Schrecken, daß es auch nicht wahr war: Nicht mehr lange, und er würde wahrscheinlich im Gefängnis sitzen.
Jeffrey atmete die kühle Spätnachmittagsluft tief ein und genoß ihre Reinheit. Er schaute zu, wie ein Zaunkönig einen Wurm aus der feuchten Erde zerrte. Dann ging er wieder ins Haus, um zu sehen, wie er noch helfen könnte.
Das Essen war köstlich und ein großer Erfolg. Trotz der ziemlich trüben Umstände gelang es ihm, alles mit Freuden zu genießen. Sie aßen marinierte Thunfischsteaks, Reis-Pilaw und einen gemischten Salat. Kelly hatte noch eine Flasche Chardonnay im Kühlschrank gehabt. Er war kalt und frisch. Jeffrey merkte plötzlich, daß er lachte - zum erstenmal seit Monaten. Das an sich war schon ein beträchtlicher Erfolg.
Mit Kaffee und noch mehr Käsekuchen zogen sie sich später wieder auf die Couch zurück. Chris’ Notizen und die beiden Lehrbücher lenkten Jeffreys Gedanken erneut auf ernstere Themen.
»Es ist mir ein Greuel, noch einmal zu unangenehmen Dingen zurückzukehren«, sagte er, als in ihrer Unterhaltung eine Pause eingetreten war. »Aber wie wurde über die Kunstfehlerklage gegen Chris entschieden?«
»Die Klägerseite gewann«, antwortete Kelly. »Die Entschädigungszahlung wurde zwischen der Klinik, Chris und dem OP-Chirurgen nach irgendeinem komplizierten Plan aufgeteilt. Ich glaube, das meiste hat Chris’ Versicherung übernommen, aber genau weiß ich das nicht. Zum Glück ist dieses Haus nur auf meinen Namen eingetragen, und so konnten sie es nicht seinem verfügbaren Sachvermögen zurechnen.«
»Ich habe eine Zusammenfassung gelesen, die Chris geschrieben hat«, sagte Jeffrey. »Von einem Kunstfehler kann nicht die Rede sein.«
»Bei einem emotional dermaßen aufgeladenen Verfahren ist es gar nicht so wichtig, ob wirklich ein Kunstfehler im Spiel war oder nicht. Ein guter Anwalt des Klägers wird die Geschworenen immer dazu bringen, daß sie sich mit dem Patienten identifizieren.«
Jeffrey nickte. Das stimmte leider. »Ich muß Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er. »Hätten Sie viel dagegen, wenn ich mir diese Aufzeichnungen ausleihe?« Er klopfte auf den Stapel Papier.
»Um Himmels willen, nein«, antwortete Kelly. »Bedienen Sie sich nur. Darf ich erfahren, warum Sie sich so sehr dafür interessieren?«
»Sie erinnern mich an Fragen, die mir bei meinem eigenen Fall in den Sinn gekommen sind. Es gab da ein paar kleine Unstimmigkeiten, die ich mir nie habe erklären können. Und zu meiner Überraschung sehe ich jetzt, daß die gleichen Unstimmigkeiten bei Chris auftreten. Auf die Möglichkeit einer Kontamination bin ich noch nicht gekommen. Ich würde seine Aufzeichnungen gern noch ein paarmal durchlesen. Es wird nämlich nicht auf den ersten Blick klar, was er im Sinn hatte. Außerdem«, fügte Jeffrey grinsend hinzu, »habe ich dann einen guten Vorwand, Sie wieder zu besuchen.«
»Dazu brauchen Sie keinen Vorwand«, sagte Kelly. »Sie sind jederzeit willkommen.«
Jeffrey ging, kurz nachdem sie ihr Dessert aufgegessen hatten. Kelly begleitete ihn hinaus zu seinem Wagen. Sie hatten so früh gegessen, daß es draußen immer noch hell war. Jeffrey bedankte sich überschwenglich für ihre spontane Gastfreundschaft. »Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr es mir gefallen hat«, sagte er aufrichtig.
Er legte den Aktenkoffer, der jetzt auch Chris’ Aufzeichnungen enthielt, in den Wagen und stieg ein. Kelly steckte den Kopf durch das offene Fenster. »Denken Sie daran, was Sie mir versprochen haben«, warnte sie ihn. »Wenn Sie auf dumme Gedanken kommen sollten, müssen Sie sich bei mir melden.«
»Ich werde daran denken«, versprach Jeffrey.
Ruhig und zufrieden fuhr er nach Hause. Die Stunden mit Kelly hatten seine Stimmung beträchtlich verbessert. Angesichts der Umstände fand er es erstaunlich, daß er in der Lage gewesen war, auf so normale Weise zu reagieren. Aber er wußte, es hatte mehr mit Kellys als mit seiner eigenen Psyche zu tun. Als er in seine Straße einbog, griff er nach seinem Aktenkoffer, der vom Sitz zu fallen drohte, und dachte an den merkwürdigen Inhalt. Rasierzeug, Unterwäsche, fünfundvierzigtausend Dollar in bar und ein Stapel Notizen von einem Selbstmörder.
Er rechnete zwar nicht damit, irgend etwas zu
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