Narkosemord
betroffen waren. Gegen Ende der Woche kam es zu einem endgültigen Herzstillstand.
Jeffrey blickte auf. Die Lektüre dieses kargen Berichts über eine Komplikation erweckte all das Grauen in ihm, das er verspürt hatte, als er so verzweifelt um Patty Owen gekämpft hatte. Das Geschehene war so gegenwärtig, daß ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Und daß es so gegenwärtig war, hing mit der frappierenden Ähnlichkeit der beiden Fälle zusammen, und zwar nicht nur, was die dramatischen Anfälle und die Herzstillstände betraf. Jeffrey erinnerte sich mit erschreckender Klarheit an den Augenblick, als er den Speichel- und Tränenfluß bei Patty gesehen hatte. Dazu kamen die Leibschmerzen und die kleinen Pupillen. Nichts davon war eine übliche Reaktion auf eine Lokalanästhesie, obwohl solche Anästhetika bei wenigen unglücklichen Personen ein außergewöhnlich breites Spektrum von unerwünschten neurologischen und kardiologischen Nebenwirkungen verursachen konnten.
Jeffrey studierte die nächste Seite der Aufzeichnungen. Sie enthielt mehrere Wörter in Blockbuchstaben. Zwei davon lauteten »muscarinisch« und »nikotinisch«. Jeffrey kannte sie noch aus seinen Studientagen; sie hatten etwas mit der Funktion des autonomen Nervensystems zu tun. Und dann stand dort: »irreversible hohe Spinalblockade mit Einbeziehung der Schädelnerven«, gefolgt von einer Reihe von Ausrufungszeichen.
Er hörte, daß Kellys Wagen in die Einfahrt bog und in die Garage fuhr. Er sah auf die Uhr. Sie war eine schnelle Einkäuferin.
Das nächste in Chris’ Stapel war ein NMR-Bericht, das Protokoll einer nuklearmagnetischen Resonanzuntersuchung, der man Henry Noble unterzogen hatte, als er gelähmt im Koma gelegen hatte. Die Resultate waren normal.
»Hallo!« rief Kelly munter, als sie zur Tür hereinkam. »Haben Sie mich vermißt?« Sie lachte und ließ ein Paket auf den Küchentisch plumpsen. Dann trat sie hinter die Couch und blickte Jeffrey über die Schulter. »Was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Jeffrey. »Aber diese Aufzeichnungen sind faszinierend. Es gibt so viele Ähnlichkeiten zwischen unseren beiden Fällen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Na, ich bin froh, daß dieses Zeug für jemanden nützlich ist«, sagte Kelly und ging wieder in die Küche. »Dann komme ich mir weniger komisch vor, weil ich es alles aufgehoben habe.«
»Ich finde es überhaupt nicht komisch, daß Sie es aufgehoben haben«, entgegnete Jeffrey und wandte sich dem nächsten Blatt zu. Es war eine maschinengeschriebene Zusammenfassung des Autopsieberichts über Henry Noble. Chris hatte eine Stelle unterstrichen - »in mikroskopischer Sektion axonale Degeneration erkennbar« - und eine Serie von Fragezeichen daneben geschrieben. Unterstrichen hatte er auch die Worte »toxikologisch negativ« und mit einem emphatischen Ausrufungszeichen versehen. Jeffrey war ratlos.
Die restlichen Notizen waren hauptsächlich Zusammenfassungen aus dem Pharmakologielehrbuch von Goodman und Gillman. Ein kurzer Blick ließ vermuten, daß sie sich überwiegend mit der Funktion des autonomen Nervensystems befaßten. Er beschloß, sich dieses Material später anzusehen, legte die Papiere in einem Stapel auf den Tisch und beschwerte sie mit den beiden Medizinbüchern.
Dann ging er hinüber zu Kelly, die sich an der Spüle zu schaffen machte. »Was kann ich tun?« fragte er.
»Sie sollen sich entspannen«, sagte Kelly und wusch den Salat.
»Ich würde lieber helfen.«
»Wie Sie wollen. Vielleicht können Sie hinten auf der Veranda den Grill anzünden? Die Streichhölzer sind dort in der Schublade.« Sie deutete mit einem Salatblatt in die entsprechende Richtung.
Jeffrey schnappte sich ein Streichholzheft und ging hinaus. Der Grill war eine jener Kuppelkonstruktionen, befeuert mit einer Propangasflasche. Er hatte im Handumdrehen heraus, wie das Ventil funktionierte, zündete den Brenner an und schloß die Kuppel.
Ehe er wieder hineinging, ließ er den Blick über den ungepflegten Garten wandern. Das hohe Gras leuchtete in frühlingshaftem Grün. Es hatte viel geregnet in diesem Frühling, so daß die gesamte Vegetation besonders gesund und üppig aussah. Farnwedel waren im Dickicht der Bäume zu sehen.
Jeffrey schüttelte ungläubig den Kopf. Es war fast nicht zu glauben, daß er nur einen Abend vorher so nah daran gewesen sein sollte, Selbstmord zu begehen. Und noch am Nachmittag hatte er vorgehabt, nach Südamerika zu
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