Narkosemord
kannte.
Anschließend gingen sie die Treppe hinauf in die Ambulanz und in die Notaufnahme. In der Notaufnahme hätte Jeffrey sich am liebsten sofort verdrückt, als er gleich mehrere Assistenzärzte aus der Chirurgie erkannte, die im Laufe ihrer Rotation im Hause auch in der Anästhesie gelandet waren und die er dabei recht gut kennengelernt hatte. Zum Glück schauten sie aber nicht in seine Richtung, denn sie hatten mit den Verletzten von einem Autounfall alle Hände voll zu tun.
Von der Notaufnahme führte Martinez Jeffrey zu den Hauptaufzügen im Nordturm. »Jetzt möchte ich Ihnen die Labors zeigen«, sagte er, »und dann den OP-Trakt.«
Jeffrey schluckte. »Sollten wir nicht langsam zu Mr. Bodanski zurückgehen?« fragte er.
»Wir können uns soviel Zeit lassen, wie wir brauchen«, meinte Martinez und winkte Jeffrey zu einem der Fahrstühle, dessen Türen gerade aufgeglitten waren. »Außerdem ist es wichtig, daß Sie die Pathologie, das Chemielabor und den OP noch sehen, denn da werden Sie heute nacht arbeiten. Die Nachtschicht putzt dort immer. Wir können ja nur nachts rein.«
Jeffrey wich bis an die Rückwand des Aufzugs zurück. Martinez kam ihm nach. »Sie werden mit vier Leuten arbeiten«, sagte er. »Der Schichtleiter ist David Arnold. Ein guter Mann.«
Jeffrey nickte. Als sie sich der OP- und Laboretage näherten, bekam er ein brennendes Gefühl in der Magengrube. Er schrak zusammen, als Martinez nach seinem Arm faßte, ihn vorwärtszog und sagte: »Das ist unser Stockwerk.«
Er holte tief Luft, ehe er sich anschickte, den Aufzug zu verlassen und den Teil des Krankenhauses zu betreten, in dem er praktisch die letzten zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Sein Unterkiefer klappte herunter, und eine Sekunde lang war er starr vor Schrecken. Unmittelbar vor ihm stand Mark Wilson und wollte den Aufzug betreten. Seine dunklen Augen schauten Jeffrey an. Sie wurden schmal, und dann machte er den Mund auf. Jeffrey erwartete einen Satz wie: »Jeffrey, sind Sie das?«
»Wollen Sie jetzt raus oder nicht?« fragte Mark.
»Wir steigen hier aus«, sagte Martinez und stieß Jeffrey an.
Jeffrey brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß Mark ihn nicht erkannt hatte. Er drehte sich um, als die Aufzugtür sich gerade schloß, und ihre Blicke begegneten sich noch einmal. Mark ließ nicht erkennen, daß er ihn wiedererkannte.
Jeffrey schob seine Brille hoch. Sie war heruntergerutscht, als er aus dem Aufzug gestolpert war.
»Alles okay?« fragte Martinez.
»Ja, ja«, sagte Jeffrey. Es ging ihm tatsächlich schon viel besser. Die Tatsache, daß Mark ihn nicht erkannt hatte, war sehr ermutigend.
Der Rundgang durch das pathologische und das chemische Labor erwies sich als weniger strapaziös als die Fahrt mit dem Lift. Jeffrey sah viele Leute, die er kannte, aber sie erkannten ihn ebensowenig wie Mark Wilson.
Der Streß begann wieder, als Martinez ihn in den Aufenthaltsraum führte. Zu dieser frühen Nachmittagszeit waren mindestens zwanzig Leute da, die Jeffrey gut kannte; sie saßen herum, tranken Kaffee und plauderten oder lasen die Zeitung. Nur einer brauchte zu merken, wer er wirklich war, und alles wäre aus. Während Martinez ihm den Ablauf der nächtlichen Arbeiten aufzählte, starrte Jeffrey auf seine Schuhspitzen. Er beschränkte den Blickkontakt mit anderen auf ein Minimum, aber nach fast fünfzehn angespannten Minuten hatte Jeffrey begriffen, daß niemand auf ihn achtete. Er und Martinez hätten ebensogut unsichtbar sein können, so wenig Notiz nahm man hier von ihnen.
Im Umkleideraum der Männer bestand Jeffrey einen zweiten Test, der ebenso rigoros war wie seine Begegnung mit Mark Wilson. Er fand sich plötzlich einem Anästhesisten gegenüber, den er sehr gut kannte. Sie vollführten eine Art Schattentanz, um vor den Waschbecken aneinander vorbeizugelangen. Als auch dieser Arzt ihn selbst auf die kurze Entfernung nicht erkannte, war Jeffrey erstaunt und entzückt. Seine Verkleidung war noch besser, als er gehofft hatte.
»Haben Sie Erfahrung mit steriler Kleidung?« fragte Martinez, als sie vor den Schränken mit den OP-Anzügen stehenblieben.
»Ja«, sagte Jeffrey.
»Gut. Ich glaube, wir sollten da jetzt lieber nicht reingehen. David Arnold wird Sie heute nacht in den OPs herumführen müssen. Um diese Zeit ist dort zuviel los.«
»Verstehe«, sagte Jeffrey.
Erleichtert, die Tour hinter sich zu haben, zog Jeffrey wieder sein Straßenhemd an. Dann brachte Martinez ihn zurück
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