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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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obwohl genau da der Hase im Pfeffer liegt«, gab Georg zu. »Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war hier nämlich überhaupt nichts außer ein paar Siedlungen von englischen Schiffbauern und Schiffmühlenbesitzern. Aber in kürzester Zeit wuchs hier eine Gemeinde heran, die, ermutigt durch ihren wirtschaftlichen Aufstieg, sehr bald ehrgeizige Pläne zu verfolgen begann. Die vorher unwichtigen Ortschaften und Gemeinden wuchsen rapide und bald strebten die Schlote der ersten Industrieansiedlungen vor den Toren von Wien in den Himmel. Die neue Gemeinde gab sich den zukunftsweisenden Namen Donaufeld anstelle des alten, leicht zu verwechselnden Neu-Leopoldau. Sie wollten damit wohl zeigen, dass sie nicht länger ein Ableger von einer Wiener Vorstadt, sondern etwas vollkommen Eigenständiges waren.« Der Wissenschaftler schaute auf die Uhr. »Es ist zwanzig Minuten vor acht. Wir müssen unsere Aktion mit der von Valerie und Berner koordinieren. In einer Stunde sollten wir spätestens anrufen, damit wir wissen, wie weit sie sind.«
    »Vergesst nicht«, warf Eddy ein, »dass diese neue Gemeinde der Donau abgerungen wurde und keine Wiener Vorstadt war, ja nicht einmal in Wien lag. Mein Großvater sagte immer: ›Da wollten wir eigentlich gar nicht hin‹, und tatsächlich war dieses Floridsdorf eine aufstrebende Stadt in Niederösterreich. Bis der alte Lueger kam und sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Blüte einverleibte. Er war wohl neidisch auf den Erfolg, konnte keine Konkurrenz vertragen und hat den Markt bereinigt.« Der Exringer kicherte.
    »So ist es«, bestätigte Georg, »Dein Großvater hat völlig recht. Noch im Jahr 1892 hielt der damalige Statthalter von Niederösterreich eine bemerkenswerte Rede, in der er forderte, die Gemeinden Floridsdorf, Donaufeld und Jedlesee zu einer neuen Landeshauptstadt von Niederösterreich zu vereinen, und zwar mit Bischofssitz. Stellt euch vor, was das heißt! Wien war immerhin offiziell die Landeshauptstadt von Niederösterreich, dem Kernland des Reiches! Die Floridsdorfer waren überhaupt nicht begeistert und formulierten schon im Mai 1894 einen entsprechenden Forderungskatalog, der auch verabschiedet wurde. Der letzte Punkt besagte klar und deutlich, dass eine Vereinigung mit Wien nicht wünschenswert sei. Diese Forderung war eine offene Kampfansage, eine Herausforderung, und nichts anderes.«
    Der Wissenschaftler überlegte kurz. »Wien war die alte Kaiserstadt, Herz und Kopf von Österreich. Und plötzlich kam eine andere, viel jüngere Stadt und forderte unverblümt die Hoheit von ihr. Darauf musste Lueger einfach reagieren und Floridsdorf rechtzeitig schlucken, bevor es für sein Wien wirklich gefährlich werden konnte.«
    Sina wies über seine Schulter auf die Kirche hinter ihnen. »St. Leopold sollte der neue Dom werden. Und Leopold ist niemand Geringerer als der eigentliche Begründer dieses Landes. Damit stellte die Forderung die gewachsenen, historischen Machtverhältnisse in Frage, durch eine ganz einfache Maxime: Eine neue Landeshauptstadt für eine neue Ordnung. Eine Hierarchie, nicht mehr getragen von Tradition, sondern von der Macht des Kapitals. Und das Symbol dafür sollte der neue Dom sein. Die Vergangenheit sollte endlich der Zukunft Platz machen. Wien war gestern, Floridsdorf war heute.«
    Georg zeichnete Dreien auf seinen Oberschenkel. »Aber da ist noch viel, viel mehr. Die Bezugnahme auf den heiligen Leopold, einen Babenberger und keinen Habsburger, verankerte den Anspruch noch zusätzlich in der Geschichte. Man forderte die Habsburger heraus, direkt und unverblümt.«
    »Das erklärt auch die Dimensionen, die einer Kathedrale zur Ehre gereichen würden«, nickte Paul.
    »Ja und nein, so einfach ist es jetzt auch wieder nicht«, bremste ihn Sina. »Der ursprüngliche Entwurf des Architekten im Auftrag des Stifts Klosterneuburg war wesentlich umfangreicher. Er sah eine Bischofskirche mit zwei Türmen vor, wurde aber nie in der Form realisiert.«
    »Warum eigentlich nicht?«, fragte Eddy und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Die alten Damen waren immer noch da. Sonst konnte er beim besten Willen nichts Ungewöhnliches feststellen und er wusste nicht, ob das nun gut oder schlecht war.
    »Da wird es mysteriös«, antwortete der Wissenschaftler. »Auf einer Seite kam die hohe Politik ins Spiel, auf der anderen eine Riesensumme Geld. Der Gemeinderat der k.u.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, wie das damals noch so schön geheißen hat, hatte im Jahr 1904

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