Narr
beschlossen, Floridsdorf nach Wien einzugliedern. So wurde der ›Dom von Floridsdorf‹ eine weitere Wiener Kirche und der Plan, einen hundert Meter hohen Turm zu bauen, kurzerhand untersagt. Das Symbol für die Größe und den Reichtum der Konkurrenzstadt vor den Toren wurde mit einem Federstrich zu einer Pfarrkirche unter vielen degradiert. Demütigender hätte man den Triumph gar nicht demonstrieren können.«
»Sind die Geldgeber abgesprungen?«, erkundigte sich Paul und schaute automatisch auf die Uhr. Helmut und Frank waren wieder auf der Sitzbank eingeschlafen, während Johann interessiert zuhörte. Alle waren übermüdet und das bereitete Eddy die größten Sorgen.
»Auch das«, bestätigte Georg, »aber es kam noch seltsamer. Erst starb ganz überraschend der Architekt, ein einflussreicher Baurat Namens Anton Ritter von Neumann, der die Leitung des Baus hatte. Dann blieb das Stift Klosterneuburg auch noch auf den Kosten in Millionenhöhe sitzen.«
Georg zuckte mit den Schultern. »Die Schüler Neumanns übernahmen die Fortführung des Baus und es wurde eingespart, wo es nur ging, vor allem bei der künstlerischen Gestaltung. Der Kirchturm musste um vier Meter gestutzt werden, weil er die neunundneunzig Meter hohe Votivkirche überragt hätte. Kein Gebäude in Wien durfte höher als die Stiftung des Kaisers und seines Bruders sein, schon gar kein Dom in der Vorstadt. Nur dem Stephansdom war das erlaubt, denn er war die unumstrittene Kathedrale von Niederösterreich und des ganzen Reiches.«
»Mein Großvater hat oft von der Grundsteinlegung erzählt«, unterbrach ihn der Exringer. »Das soll damals ein riesiges Fest gewesen sein, überall waren Fahnen und Girlanden und es gab Freibier. Sogar der Kaiser kam, ebenso wie die halbe Regierung.«
»Darum sagte wohl Max auch, der ›Kaiser baut den Dom‹«, sinnierte Paul.
»Korrekt«, meinte Sina bestimmt, »und deshalb bin ich überzeugt davon, dass wir an der richtigen Stelle sind. Die Einweihung im Juni 1914 war übrigens weit weniger spektakulär und aufwendig. Da ließ sich der Kaiser von einem Verwandten vertreten und der prominenteste Würdenträger war der Propst von Klosterneuburg. Mir kommt es ganz so vor, als hätte Franz Joseph durchschaut, was hier in Wirklichkeit gespielt worden ist.«
»Und was wurde deiner Meinung nach wirklich gespielt?«, hakte Wagner nach.
»Etwas Unglaubliches, Angsteinflößendes«, antwortete Sina. »Nachdem der Plan, Wien den Rang der Landeshauptstadt von Niederösterreich abzulaufen, geplatzt ist und die Investoren sich verabschiedet haben, weil hier nichts mehr für sie zu holen war, blieben die Chorherren von Klosterneuburg und die Bauherren in der Vorstadt auf einem Projekt und einem Riesenberg an Schulden sitzen. Die Zeit war reif für die Retter mit der machiavellistischen Ader ohne Skrupel und Moral – Auftritt der Schattenlinie …«
»Du meinst …?« Wagner stieg aus, legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf, den Turm entlang in den blauen Himmel. »Du meinst, sie haben ihn gebaut?«
Sina nickte. »›Ihr wollt eine neue Ordnung?‹, fragen sie. ›Das wollen wir auch. Aber noch viel besser, liebe Freunde, wir sind die neue Ordnung!‹ Sie stürmen quasi in das Sitzungszimmer, knallen ihr Geld auf den Tisch und rufen: ›Wir nehmen euch die Probleme ab, bleibt ruhig, wir sind schon da!‹ Ihre einzige Auflage war, die Ausführung nach neuen, nach ihren ganz besonderen Plänen.« Georg strich sich über die Haare und einige Ziegelsplitter rieselten auf die Sitzbank. »Den eigenen Konkurs vor Augen, gingen alle in die Knie. Neumann, der sich querlegte, bereute es bald. Blitzschnell wurden seine Schüler mit der Bauleitung beauftragt, als der Baurat das Zeitliche segnete, wie opportun …«
»Sie sind überall«, flüsterte Paul, »und sie lassen keine Gelegenheit aus.«
»Die Schattenlinie greift ein. Es war ein Moment, auf den sie lange gewartet hatte, und jetzt ließ sie ihn nicht verstreichen. Wer zahlt, schafft an! Erinnerst du dich? Das Ergebnis steht da hinten.« Georg deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf die Kirche. »Neumanns Plan sah eine mittelalterliche Kathedrale vor, angelehnt an romanischen und gotischen Vorbildern. Aber das, was hier gebaut worden ist, das ist etwas ganz anderes.«
Niemand sagte ein Wort.
»Jede christliche Kirche, Rundkirchen einmal ausgenommen, hat einen Grundriss in Kreuzform. Um diese Form zu erreichen, braucht es mindestens ein Querhaus. St.
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