Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
Vom Netzwerk:
Leopold hat kein solches Querschiff. Kurz gesagt: Kein Kreuz, keine Kirche.« Sina blickte ernst in die Runde.
    »Ein weiterer, wesentlicher Unterschied zur mittelalterlichen Bautradition ist, dass die Rippen des Netzrippengewölbes keine tragende Funktion haben, wie es sonst der Fall ist. Die Gewölberippen einer Kathedrale sind tatsächlich ihr Skelett. Aber hier wird der komplette Schub des Gewölbes von eigenen Strebepfeilern an der Außenseite der Kirche abgefangen. Die tragenden Elemente sind also außen und der mittlere Teil ist demnach schwebend und vielleicht sogar hohl.«
    »Das wäre eine gute Möglichkeit, etwas zu verstecken oder auch um ein Gas zu verteilen«, flüsterte Johann. »Wenn die Schattenlinie beim Bau mitgemischt hat, dann haben sie alle Eventualitäten in Betracht gezogen und in der Kirche ein verzweigtes Rohrsystem eingezogen. Ich würde es jedenfalls so machen, egal, ob ich es irgendwann einmal brauche oder nicht.«
    »Gibt es irgendwelche Hinweise dafür?« Paul sah seinen Freund an.
    Der Wissenschaftler nickte. »Überall in den Mauern sind die alten Leitungen der ehemaligen Gasbeleuchtung. St. Leopold wurde auch mit Gas geheizt, bis die Gemeinde Wien in den Achtzigern festgestellt hat, dass es sich um uraltes Rohrmaterial handelt. Man wollte die Leitungen natürlich umgehend auswechseln, aber das wurde abgelehnt.«
    »Wie bitte?« Eddy traute seinen Ohren nicht. »Es wurde abgelehnt? Das ist jetzt nicht wahr, oder?«
    »Doch, genau so war es.« Sina lächelte müde. »Offiziell hieß es, die Kosten von umgerechnet siebentausend Euro würden die Möglichkeiten der Pfarrgemeinde überschreiten, und die alte Heizung wurde kurzerhand ersetzt, was auch nicht billiger gewesen sein kann. Die Leitungen blieben, wo sie waren.«
    »Wen überrascht das noch?«, fragte Wagner bitter.
    »Wer bisher die Handschrift nicht lesen konnte, der braucht nur das jahrtausendealte Alphabet der Symbolik studieren. Das Resultat ist allerdings beängstigend.« Der Historiker blickte in die Runde. »Der Innenraum ist exakt nach Osten ausgerichtet. Am Tag des heiligen Leopold treffen die Strahlen der aufgehenden Sonne durch die Apsisfenster auf die Orgel. Ein uraltes Konzept, das in diesem Fall für die Auferstehung steht. Leopold ist der Landespatron von Österreich. Ich denke daher, dieser Bau verherrlicht die Auferstehung und Wiedergeburt Österreichs in einer ganz speziellen Form. Das alles erinnert mich also weniger an eine Kathedrale, sondern eher an einen antiken Tempel. Das passt zu der Bildersprache, die uns bis hierher geführt hat.«
    »Und was schließt du daraus?«, unterbrach ihn Wagner.
    »Ganz einfach«, antwortete Georg, »St. Leopold im Donaufeld ist der Tempel der Schattenlinie. Und wir werden in sein Innerstes hinuntersteigen müssen.«
    Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage, Wien-Brigittenau/Österreich
    D ie graugrünen Wellen der Donau klatschten schmatzend gegen die niedrige Bordwand des flachen, rot-schwarzen Holzbootes. Ab und zu schwappte ein Schwall kalten Wassers in die Feuerwehrzille und Berner zog vorsichtshalber die Füße ein. Das Donauwasser war selbst im Spätsommer unangenehm frisch, besonders wenn es in die Schuhe rann.
    Burghardt saß an den Riemen und schnaufte bei jedem Ruderschlag. Sie fuhren gegen die leichte Strömung im Donaukanal und kamen rasch voran.
    Der Kommissar saß im Heck und kontrollierte das Magazin seines Colts. Zufrieden steckte er die schwere Waffe auf dem Rücken in den Hosenbund. Hoffentlich geht alles gut, dachte er. Wäre es nach ihm gegangen, er hätte sofort losgeschlagen. Aber da waren auch die anderen, die wieder den tödlichen Senfgasgranaten gegenüberstanden und blitzschnell eine Lösung finden mussten. Trotzdem … Berner biss sich auf die Lippen und die Sekunden erschienen ihm wie Jahre.
    »Warum muss ich eigentlich den Motor spielen«, keuchte Burghardt, »anstatt bei einem vernünftigen Frühstück zu sitzen?«
    »Weil du eine bewegende Persönlichkeit hast. Und ich den höheren Dienstrang«, brummte Berner unwirsch und ließ seine Blicke über die bewachsene Uferpromenade wandern. »Und weil wir uns dem Haus unbemerkt nähern müssen, und das geht nur übers Wasser.« Er warf Burghardt noch einen strafenden Blick zu, dann drehte er sich um und schaute zurück.
    Die Strahlen der Morgensonne glitzerten auf den flachen Wellenbergen und den sich sanft kräuselnden Strömungen der Donau. Das Grau der Dämmerung war zu einem fast schon herbstlichen

Weitere Kostenlose Bücher