Narr
Blau geworden, während die Wolken goldgelb schimmerten. Der Kommissar sah die Dächer und Kirchen des alten Wien auf dem einen Ufer und die rechtwinkeligen Hochhäuser und Türme der neuen Skyline auf dem anderen. Der Fluss trennt die Stadt mehr, als er sie verbindet, dachte der Kommissar und sah die Turmspitze von St. Stephan, die inmitten des Häusermeeres golden glühte.
Der Kommissar spürte die Strahlen der Morgensonne auf seinem Gesicht. Viele Fälle waren ihm nahegegangen und er wusste nur zu gut, dass hinter dieser Postkartenkulisse aus Lipizzanern und Sängerknaben, aus Riesenrad und Schloss Schönbrunn ein Sumpf brodelte. Aber noch nie war es derart persönlich geworden wie jetzt. Weder im letzten Jahr, als er selbst das Opfer einer Entführung geworden war, noch jemals zuvor. Diesmal war das passiert, was er immer so panisch gefürchtet hatte und weswegen seine Frau schließlich den Wiener Kommissar gegen einen Aachener Handelskaufmann eingetauscht hatte. Es hatte seine Familie getroffen und damit seine verwundbarste Stelle.
Berner senkte den Kopf. Oft war es nur um ihn selbst gegangen in all den Jahren. Er war bedroht worden, beschimpft, verprügelt und zwei Mal sogar angeschossen. Damit hatte er ganz gut umgehen können. Nach der Trennung von seiner Frau waren ihm nur mehr die Kollegen geblieben, nach seiner Pensionierung nur mehr seine Kinder. Ruzicka fiel ihm ein, der nun ebenfalls auf dem Weg zum Einsiedler war, wenn er je aus diesem Krankenhaus entlassen werden würde.
Dann drehte sich der Kommissar wieder um und schaute voraus, auf die beiden Löwen, die ihm den Rücken zuwandten und nach Norden schauten, stolz und unbeweglich. Für Georg war das Rätsel kein Rätsel gewesen. Er hatte sofort gewusst, dass es um die Nussdorfer Schleuse ging, mit dem von Otto Wagner erbauten, strahlend weißen Verwaltungsgebäude.
Es würde wieder ein herrlicher Spätsommertag werden, gerade richtig, um mit seiner Enkelin einen Spaziergang zu machen. Aber stattdessen musste er sie aus der Hand eines Irren befreien, der Gott weiß was mit ihr anstellen konnte.
»Da kommt sie schon«, unterbrach Burghardt die düsteren Gedanken des Kommissars und deutete auf die zweispurige Straße, die als Verlängerung des Handelskais direkt auf das ehemalige Verwaltungsgebäude der Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage zuführte. »Wie geplant«, schnaufte Burgi, »und sie ist genau im Zeitplan.« Er hörte, wie der Pizza Expresss mit Valerie und einem Teil des Teams das Wasser entlangröhrte. Auf der anderen Seite des Kanals tauchte der weiße Porsche Carrera RS von Paul auf, in dem die beiden anderen Männer von Eddys Team saßen. »Weiß Wagner davon, dass ihr euch beide Autos ausgeborgt habt?«
»Wenn es ihm ein vorlauter Kriminalbeamter nicht erzählt, dann wohl kaum«, grummelte Berner.
»Ab jetzt ist Valerie eine wandelnde Zielscheibe, wenn die Bewacher den Wagen kennen. Sie versucht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und von uns abzulenken.«
»Das wird ihr in dem Vehikel nicht schwerfallen«, kommentierte Berner sarkastisch. »Und jetzt leg dich wieder in die Riemen, Burgi, sonst kommen wir nie rechtzeitig an.«
»Ist ja schon gut, du verhinderter Galeerenkapitän«, schnaufte Burghardt und legte sich noch kräftiger ins Zeug, um gegen die stärker werdende Strömung die Oberhand zu behalten. »Wo willst du an Land gehen?«
»Unterhalb der Wehranlage, wo wir nicht gesehen werden können«, brummte Berner. »Ich will kein Empfangskomitee haben, das mich gleich wieder ins Wasser wirft.«
Kinzerplatz, Wien-Floridsdorf/Österreich
W ir müssen in diesen Tempel der Schattenlinie, ob es uns gefällt oder nicht.« Die Stimme Johanns verriet, dass ihm ganz und gar nicht wohl war bei dem Gedanken. »Ich bin jetzt auch davon überzeugt, dass wir am richtigen Platz sind. Sie haben uns in ihren eigenen Tempel gelockt für die letzte und schwerste Aufgabe, die uns bleibt. Wir haben jetzt noch knapp eineinhalb Stunden, um das Senfgas zu finden. Was machen wir, wenn sie den Zünder früher eingestellt haben, so wie am Kahlenberg?«
»Daran glaube ich nicht«, gab Paul nachdenklich zurück. »Alles konzentriert sich auf 10:00 Uhr. Da soll Berner seine Tochter und seine Enkelin abholen und für den gleichen Zeitpunkt werden sie die Sprengung vorbereitet haben. Das ergibt Sinn.«
»Sinn im Wahnsinn?« Eddy schüttelte den Kopf und kletterte aus dem Bus. »Gott bewahre mich vor Narren.«
Wenige Augenblicke später zog Wagner
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