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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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der Balustrade. »Wir zahlen nicht für eure Krise!«, »Die Uni brennt«, »Stopp dem Bildungsraubbau!« und »Freier Bildungszugang für alle!«
    »So weit kommt’s noch«, murmelte er und schüttelte entsetzt den Kopf. Ihm fiel seine Großmutter ein. Narrenhände beschmieren Tisch und Wände, hatte sie immer gesagt – und: Die sollen ihre Köpfe lieber in ihre Bücher stecken, anstatt sie mit solch wirren Gedanken zu füllen. Lamberg gab ihr angesichts des Mülls und der Plakate wie immer recht.
    Professor Sina war noch immer nicht in Sicht. Elf Minuten zu spät, befand Lamberg nach einem neuerlichen kritischen Blick auf seine Uhr, waren elf Minuten zu lang. »Ja, ja, der Fisch beginnt am Kopf zu stinken …«, brummte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Professor Georg Sina ärgerte sich durch den Verkehr. Gesperrte Straßen, Polizei, wohin man schaute, und Wichtigtuer, die sich todesmutig auf die Fahrbahn stürzten, um dann jedem Autofahrer, der ihnen zu nahe kam, hinterherzuschreien. Das Treffen der Finanzminister sorgte selbst an einem Sonntag in der Wiener Innenstadt für Chaos. Mit hochrotem Kopf war Sina einer selbstmörderischen Pensionistin ausgewichen, die mit waagrecht ausgestrecktem Stock und einer wohl seit Generationen gesicherten Familiengruft am Wiener Zentralfriedhof todesmutig vor ihm über die Fahrbahn schlich. Sinas gefluchter Kommentar war weit entfernt von druckreif. Wenn mich meine Studenten jetzt gehört hätten, überlegte er, dann wäre es vorbei mit dem Respekt. Bei einigen hätte ich aber vielleicht gerade jetzt einen Stein im Brett, schmunzelte er und hielt Ausschau nach einem Parkplatz.
    Schneller, als er es erwartet hatte, fand er eine Parklücke, unmittelbar neben der Universität, und das besänftigte ihn wieder. Amüsiert erinnerte er sich jedes Mal, wenn er seine Runden um die Uni drehte oder einen Parkschein ausfüllte, an Pauls Frage, ob ihm denn als Professor kein reservierter Parkplatz zustand. Kein Platz und kein Budget für solche Extravaganzen, hieß es immer vom Rektorat. Sonntag sei Dank, heute war alles anders. Das ersparte ihm auch den Anblick gewisser Zeitgenossen am Morgen, die wie er auf die U-Bahn angewiesen waren, um in die Innenstadt zu gelangen. Die geschniegelten Typen mit todernster Miene, die als schlechte Kopie von englischen Landedelleuten kleinformatige Gratiszeitungen wie die Times vor sich herhielten, waren Sina ein Gräuel.
    Mit diesen Gedanken ließ er den roten Golf, den ihm Paul Wagner nach ihrem letzten gemeinsamen Abenteuer geschenkt hatte, voll beladen mit seiner schmutzigen Wäsche, einer Palette Hundefutterdosen für Tschak, zwei vollen Weinflaschen und einer Handvoll unbezahlter Strafmandate unverschlossen stehen und machte sich auf den Weg zur Aula – immer getreu seinem Credo: einen offenen Wagen kann man nicht aufbrechen, und wenn jemand Hundefutterdosen stiehlt, dann geht es ihm wirklich schlecht.
    Seine Wut über das Umleitungschaos und der Ärger über die Pensionistin waren bald verraucht. Zu blöd aber auch, dass ich gestern nichts zum Umziehen mitgenommen habe, dachte er sich, das durchgeschwitzte und muffelige Zeug von gestern hätte ich schlecht nochmals anziehen können. Und wenn er ehrlich mit sich war, es ekelte ihn vor der Vorstellung, die Kleider am Leib zu tragen, in denen er seinen toten Lehrer gefunden hatte. Er schaute an sich herunter. Pauls Kleiderschrank hatte sich als ergiebig erwiesen. Diesen Lamberg würde bestimmt der Schlag treffen angesichts dieses T-Shirts, freute er sich und kickte fröhlich eine leere Cola-Dose aus seinem Weg. Sina sah auf die Uhr – 11:15, perfektes Timing. Pfeifend stieg er die Treppe hinauf.
    Lamberg sah die seltsame Figur schon von Weitem und haderte mit seinem Schicksal und dem Zustand der akademischen Welt im Besonderen. Der hochgewachsene Mann mit dem Pferdeschwanz kam geradewegs auf ihn zu, und Lamberg legte sich instinktiv schon ein paar passende Worte zurecht, um ihn abzuwimmeln, sollte er ihn um Kleingeld anbetteln. Der Unbekannte mit dem Bart und den langen Haaren jedoch lächelte ihn freundlich und ein wenig spöttisch an und fragte: »Ireneusz Lamberg, nehme ich an?«
    Lamberg war sprachlos und nickte nur stumm.
    »Georg Sina. Freut mich, Sie kennenzulernen. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, aber um diese Zeit ist es mörderisch schwierig, einen Parkplatz zu bekommen.« Der Professor streckte Lamberg seine rechte Hand entgegen. Der Ungar war ihm auf Anhieb

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