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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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ließ den Satz offen und zog die Infusionsnadel aus der Toten.
    Wenige Sekunden später hatten die Männer der Feuerwehr das Wrack so weit geöffnet, dass sie gemeinsam mit den beiden Ärzten aus dem Hubschrauber und den Rettungssanitätern den Mann aus den Trümmern befreien konnten. Sein Atem ging stoßweise und sein Puls flatterte. Blut rann über seinen Hals und tränkte das Hemd, das an vielen Stellen aufgerissen war. Seine Beine standen in einem unnatürlichen Winkel ab.
    Die Bahre mit dem Schwerverletzten war kaum im Hubschrauber gesichert, als der Captain den C9 bereits hochzog und in einer Steilkurve Kurs auf das Landeskrankenhaus St. Pölten nahm. Der leitende Arzt an Bord hatte wenig Hoffnung. Irgendwann können auch Schutzengel nichts mehr ausrichten, dachte er sich und gab dem blutüberströmten Mann auf der Bahre noch eine Injektion. Sie würden fünf Minuten brauchen bis zur Landeplattform der Klinik. Vielleicht blieb aber nur mehr die Zeit für ein kurzes Gebet.
    Universität, Innere Stadt, Wien/Österreich
    G eorg Sina saß regungslos in seinem Schreibtischsessel und blickte nachdenklich auf einen Punkt in seinem Arbeitszimmer, ohne ihn wirklich zu sehen. In seinem Büro im Obergeschoss der Uni wurde es in der Mittagshitze heiß und stickig. Irgendetwas summte und lenkte ihn ab. Eine fette Fliege flog unablässig, wider bessere Einsicht, Angriffe gegen das Fensterglas. Sie knallte gegen die Scheibe, nahm einen neuen Anlauf, flog einen weiten Bogen und endete wieder am Fenster.
    In Georgs Kopf überschlugen sich die Gedanken, aber er wollte keinen davon festhalten, formulieren und weiterspinnen. Lambergs Besuch hatte etwas in ihm geweckt, hatte eine Schublade aufgezogen und nun machte sich der Inhalt selbstständig. Es waren Szenen aus seiner Erinnerung, wie ein Film auf die Leinwand seines Bewusstseins projiziert. Phantome aus Licht und Schatten, ohne Skript und Ton. Dennoch, diese Bilder sagten ihm mehr als tausend Worte, allerdings in einer Sprache, die Sina fremd geworden war. Es war lange her, da kannte er noch ihre Bedeutung, aber jetzt wollte er sie weder hören noch jemals wieder sprechen.
    Diese Zunge sprach sanft, aber sie log, das wusste er. Typen wie dieser Lamberg hatten ihr Gesäusel ständig im Ohr. Georg vergaß nie, dass es eine Zeit in seinem Leben gegeben hatte, lang bevor er zum Ehemann und Jobholder geworden war und sich an den Mainstream angepasst hatte, da hatte er die Menschen zum Denken anregen, ihnen die Augen öffnen wollen. Er hatte daran geglaubt, ihre Geisteshaltung oder überhaupt irgendetwas zum seiner Meinung nach Besseren ändern zu können. Aber mit den Jahren hatten sich die Werte gewandelt, waren viele Ideale verblasst. Es kam doch alles ganz anders, edle Träume zerplatzten und die Liebe konnte von einer Minute zur nächsten sterben. Was sagte Paul immer, wenn der weltfremde Professor, der er nun einmal war, in seinen Idealismus verfiel? »Ja, Georg, genau darum bin ich damals Journalist geworden. Wir alle sind angetreten, die Welt zu verändern, aber die Welt hat uns verändert.« Und irgendwo hatte er wahrscheinlich recht.
    Aber wer konnte schon behaupten, diese Welt wirklich zu kennen, überlegte Georg. Auch Paul nicht. Und Menschen, die eindeutige Antworten auf alle Fragen lieferten, waren Georg mit den Jahren suspekt geworden. Er erinnerte sich an die erste Vorlesung Professor Kirschners, die er besucht hatte. Da hatte der stets etwas aufgelöst wirkende Kirschner zum Auditorium gesagt: »Wenn Sie eine wissenschaftliche Fragestellung bearbeiten und danach nicht noch mehr offene Fragen haben als vorher, dann haben Sie etwas falsch gemacht!« Diesen Satz hatte sich Sina hinter die Ohren geschrieben. Wenn es ein allgemeingültiges Rezept gäbe, würden doch alle denselben Brei kochen. Don Quichotte kämpfte gegen Riesen, gigantische Unholde, die für die anderen nur Windmühlen waren. Trotzdem glaubte Quichotte an seinen Auftrag. Wie oft war er, Georg, versucht zu rufen: »Sancho, mein Schwert!«
    Sina schaute auf seine Hände und seine Gedanken flogen weiter, zu seiner Burgruine, die er mit diesen Händen wieder aufgebaut hatte, aber auch zu seinen beruflichen Erfolgen, die ihm scheinbar so leicht und offenbar wie von selbst zuflogen. Alles war harte Arbeit gewesen, manchmal auf Kosten des Privatlebens, das immer wieder zu kurz gekommen war. Auf seinem Weg zu einem der besten Mittelalterforscher Europas war Georg Sina oft über Hindernisse gestolpert, manchmal

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