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Narr

Narr

Titel: Narr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Schilddorfer und Weiss
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daran verzweifelt. Wie hatte Meitner einmal vor einem internationalen Symposium zu ihm gesagt? »Wir sollten dankbar sein, Georg, dankbar, dass wir uns mit diesen Fragen beschäftigen dürfen. Wir sind Privilegierte, dessen musst du dir bewusst sein. Die meisten Leute da draußen haben gar nicht die Möglichkeit, über solche Dinge nachzudenken. Der Durchschnittsbürger hat andere, alltägliche Sorgen, die uns nicht zu kümmern brauchen.« Optimistischer Meitner! Wenn ich beim Fenster meines Elfenbeinturmes hinausschaue, sehe ich einerseits, wie richtig diese Feststellung war, dachte Georg und lächelte. Seine Miene wurde sofort wieder ernst. Aber die Freiheit des Geistes hat ihren Preis und ihre Versuchungen, denen wir ausgeliefert sind, ob wir wollen oder nicht. Georg gab dem Abfalleimer einen Tritt, der ihn polternd quer durch das Büro ins andere Eck des Zimmers rollen ließ. Nichts war einfach in diesem Leben.
    Sekunden später klopfte es an seiner Türe. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde sie zögernd einen Spalt weit geöffnet und Georg hörte den unverkennbaren Akzent der russischen Institutsassistentin: »Professor Sina? Alles in Ordnung?«
    »Ja. Danke, Irina. Ich war nur … Ich war nur in Gedanken versunken«, winkte Georg ab und lächelte sie entschuldigend an.
    Irina Sharapova kam einige Schritte herein, blieb dann aber unvermittelt stehen, als sie den umgeworfenen Papierkorb bemerkte, dessen Inhalt sich gleichmäßig über den Fußboden verteilt hatte. »Ist wirklich alles in Ordnung, Professor?« Ihre Stimme wirkte unsicher.
    Sina verschränkte die Arme vor der Brust und fixierte die junge Assistentin. Wenn er mit jemandem über seine Probleme reden wollte, dann war das ganz sicher nicht Irina Sharapova. Das blonde russische Gift, wie man sie im Institut nannte, machte ihn nervös. Seit sie von Meitner eingestellt worden war, um die längst fällige Besetzung eines Assistentenpostens gendergerecht hinter sich zu bringen, war sie Georg nicht mehr von der Pelle gerückt. Ihre waffenscheinpflichtige Figur, das schwere Parfüm und die Designerklamotten, gebündelt mit einer fast krankhaften Zuvorkommenheit, hatten allen männlichen Institutsmitgliedern schlaflose Nächte bereitet und die Nichtsingles in schwere Gewissenskonflikte gestürzt. Die übrigen Assistentinnen zerrissen sich regelmäßig den Mund über die »komische Ost-Tussi aus reichem Haus, die sich hier nur einen Professor angeln will«. Sina war ab der Stunde null, als Sharapova ans Institut gekommen war, ihr bevorzugtes Opfer gewesen. Jetzt, einige Monate später, beneideten ihn die männlichen Kollegen ausnahmslos, weil er in den vollen Genuss der russischen Aufmerksamkeiten kam. Bei dem Rest der holden Instituts-Weiblichkeit war er jedoch in Ungnade gefallen.
    Sina seufzte. Wenn er Irina nicht bald los würde, dann fragte sie ihn bestimmt gleich wieder, ob er ihr nicht einmal seine sagenumwobene Burg zeigen wollte. Dann jedoch bemerkte Georg ihre Verlegenheit und versuchte ein verbindliches Lächeln. »Es ist alles in bester Ordnung, Irina. Machen Sie sich keine Sorgen und genießen Sie Ihren Sonntag.« Er hoffte, dass sein Lächeln nicht zu aufgesetzt wirkte. Außerdem fiel ihm jetzt ein, dass sie ja eigentlich per Du waren. »Und, Irina, du kannst ruhig Georg zu mir sagen …«
    »Treten Sie immer die Möbel um, wenn Sie nachdenken? Entschuldigung … wenn du nachdenkst.« Sie musste lachen, aber hielt sich schnell die Hand vors Gesicht. »Man hat mir schon erzählt, dass Sie … dass du zu Wutausbrüchen neigst.«
    »Ach«, machte Georg und zog die Brauen hoch. Die weibliche Neidgenossenschaft hatte schon zugeschlagen. Irina war wohl nicht die Einzige, die in kurzen, gehässigen Gesprächen vor dem Kaffeeautomaten von der Institutsmafia rhetorisch hingerichtet wurde. Er schaute die Russin genauer an. Ja, kein Zweifel, das würde für einige behandlungswürdige Minderwertigkeitskomplexe unter dem weiblichen Personal reichen.
    »Den anderen macht das Angst, aber ich … ich finde das sehr männlich«, sagte die Russin lächelnd und goss sich förmlich auf den Besucherstuhl vor Georgs Schreibtisch. Ihre Handtasche schob sie mit einem Bein unter den Schreibtisch. Das »r« in ihrem »sehr« hatte sie länger rollen lassen, als es für ihren Akzent üblich war.
    Georg ertappte sich dabei, dass sein Blick sich in Irinas Dekolleté versenkte. Eine gewisse Art von Sommermode sollte in Vorschriften geregelt werden, dachte er, zumindest an

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