Narrentanz - Bürkl, A: Narrentanz
»Ich war zehn, als er es das erste Mal mit mir machte. Bis zu meinem 17. Lebensjahr wiederholte sich diese Sache 121 Mal.« Gänsehaut überzog ihren Rücken, ihre Arme. Sie blickte Sepp an. »Was soll das sein? Und von wem stammt es?«
»Ich hab keine Ahnung. Diese Handschrift habe ich noch nie gesehen.«
»Ich hatte die große Chance, schon im Volksschulalter dem berühmten Chor von Sankt Kilian beizutreten«, ging der Brief weiter. »Ich liebe die Musik, und meine Eltern meinten es sicher gut mit mir. Sie sahen dies als meine Chance. Sie waren mit dem Hausbau beschäftigt und mit meiner kleinen Schwester, die ein Sorgenkind war. Zuerst gefiel es mir sehr im Chor. Der Chorleiter war ein junger, engagierter Priester, von dem ich viel gelernt habe in Sachen Musik. Doch eines Tages … Er liebte es, nach den Messen, bei denen unser Chor auftreten durfte – wir wurden in ganz Österreich angefragt – mit dem Umkleiden in der Sakristei auf mich zu warten, bis alle anderen weg waren.«
Berenike unterbrach das Lesen, blätterte in den Seiten. Die Handschrift wechselte, einmal war sie etwas leserlicher, an anderen Stellen wirkten die Buchstaben wie hingefetzt, sehr schlampig ausgeführt, als sei der Schreiber unter großem Druck gestanden. Die Worte, Berenike ließ den Blick darüber gleiten, diese Worte ließen sie beim Lesen frieren.
»Er zog seine Soutane aus und blieb nackt stehen. Dann lächelte er mich an und wartete. Ich sollte ihm beim Ankleiden helfen, sagte er. Dabei … Er berührte mich an intimen Stellen und ermunterte mich, das gleiche zu tun. Stumm war er dabei. Er unterdrückte jeden Laut, selbst seinen keuchenden Atem. Sein Kopf wurde rot, das war alles. Alles war so … still nach unseren Auftritten. Und kalt, in den Kirchen wurde zu jener Zeit selten geheizt. Ich fühlte mich ausgelaugt, denn fürs Singen gab ich alles. Nach den gemeinsam erklingenden Stimmen – diese Stille in der Sakristei. Die Glocken waren verstummt, ihr Läuten hallte aber noch in meinen Ohren nach. Der Kaplan schwieg, immer. Bis alles vorbei war. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich wollte schließlich weiter im Chor singen. Und irgendwann wagte ich nicht mehr, etwas darüber zu erzählen. Zu große Schuld fühlte ich in mir, Mitschuld an dem, was hier geschah. Sünde war es, so sagte der Kaplan. Ich hatte Angst vor der Reaktion meiner Eltern, wenn ich ihnen davon erzählen sollte. Angst, aus dem Chor ausgestoßen zu werden. Angst, von meinen Eltern weggestoßen zu werden. Angst … ich war so allein damit. Mädchen wurden übrigens auf seinen Wunsch hin nie in den Klosterchor aufgenommen.«
Berenike ließ die Seiten sinken. »Da muss doch irgendwo ein Name sein. Von dem Mann, der das getan hat!« Sie wirbelte durch die Papiere, ein paar Seiten segelten zu Boden. Sepp bückte sich danach, stapelte sie neuerlich akkurat vor sich auf dem Tisch. »Ich weiß nicht, was man darüber denken soll. So etwas ist doch …«
»Und was ist mit den Eltern? Die müssen doch merken, was mit ihrem Kind geschieht!«
Sepp zuckte die Achseln. »Sollte man meinen. Manch einer hat halt Angst davor, tatsächlich etwas zu entdecken. Wenn’s dem Kind materiell an nix fehlt – wer von außen sagt dann was?«
»Was habt’s da zu grübeln, ihr zwei?« Eine etwa fünfzigjährige Frau im Ausseer Dirndl drängte sich an ihnen vorbei und lachte. »Seid’s nicht so, an so einem sonnigen Tag!«
»Ach, Fini«, machte Sepp. Berenike schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Kopfschüttelnd ging die Besucherin zur Theke, sprach Hans an. Berenike sah die beiden lachen, während sie miteinander in den Literatursalon gingen.
Sie wandte sich wieder Sepp zu. Gemeinsam suchten sie akribisch jede Seite nach einem Verfassernamen ab, nach irgendeinem Hinweis. Erst die letzte Seite unterschied sich vom Rest. Mit Maschine geschrieben stand da: »Das alles geschah in den Siebzigerjahren. Ich habe lange Zeit geschwiegen, weil man mir eingeredet hatte, ich sei mit schuld, ich hätte es so gewollt. Das Pfeifen hat mir vor kurzem meine Erinnerung zurückgebracht. Der Kaplan pflegte zu pfeifen, während er … Erst als ich ihn neulich zufällig traf und pfeifen hörte, war alles wieder da.
Die Medienberichte der letzten Zeit haben mir deutlich gemacht, dass diese Geschehnisse unter den Tatbestand Missbrauch fallen – und dass mein erpresstes Schweigen eine typische Strategie vieler Täter ist. Deshalb schreibe ich diesen Brief. Was mir geschehen ist, mag
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