Narrentod
Wünschen. Ich bestelle einen Kaffee-Crème und ein Gipfeli.
»Also ?« , fordere ich ihn erneut zum Sprechen auf.
»Frau Signorelli ist noch immer ganz durcheinander. Am meisten stresst sie die Tatsache, dass sie ihre Geschichte niemandem anvertrauen darf. Selbst mir wollte sie zuerst keine Auskunft geben. Sie habe der Polizei versprochen, ihre Beobachtungen geheim zu halten .«
»Wie hast du sie denn zum Reden gebracht ?« , frage ich.
»Ich habe ihr gesagt, ich sei von der Polizei. Darauf schilderte sie mir den Tathergang«, erzählt er.
»Wenn das nur Hauptmann Geissbühler nicht erfährt .«
»Heikel geworden ?«
»Nein. Nur vorsichtig. Bis jetzt funktioniert die Zusammenarbeit mit der Polizei einwandfrei. Dieses gute Einvernehmen möchte ich nicht gefährden. Immerhin habe ich von Geissbühler Neuigkeiten erfahren. Auch über die Putzfrau. Aber berichte endlich, was du bei ihr rausgekriegt hast .«
Bevor Jüre zur Sache kommt, zückt er wieder mal die Lippenpomade und fährt mit dem Stift zweimal über sein loses Mundwerk. Wären seine Lippen nicht halb so trocken wie sein Humor, würde er die Pomade besser gleich in sich hineinstopfen.
»Um die Tatzeit scheint auf dem Schlossberg richtig viel los gewesen zu sein. Frau Signorelli habe jedenfalls bereits auf der Kirchentreppe Melanie angetroffen. Du weißt, die Kadettenhauptfrau .«
»Ist mir bekannt«, sage ich.
»Melanie habe Frau Signorelli darauf bis zum Schulhaus begleitet. Das Mädchen war dort angeblich mit ihrem Freund verabredet, dem Radomir. Der war aber nicht am vereinbarten Treffpunkt .«
»Merkwürdig. Die Begegnung mit Melanie hat Geissbühler nicht erwähnt«, sage ich und frage mich: Hat sie ihm Frau Signorelli absichtlich verschwiegen? Oder hat Geissbühler mir gegenüber ihre entsprechende Aussage übergangen?
»Jüre, hat sie dir erzählt, dass Weibel gerade das Schulhaus verlassen hat, als sie dort eintraf? Und hat sie auch vom Auftritt des Stadtpräsidenten erzählt ?«
»Ja. Und danach hat sie noch die Stadthostess zitiert, die sich nach Fabian Eichenberger erkundigt habe«, sagt Jüre.
»Wozu? Ich dachte, sie wollte nur Wasser trinken ?«
»Das auch. Aber durstig wurde sie eigentlich erst, nachdem ihr Frau Signorelli mitgeteilt hatte, dass sich Herr Eichenberger dieses Jahr noch nicht habe blicken lassen .«
»Dieses Jahr? Was soll das heißen ?« , wundere ich mich.
»Keine Ahnung.«
»Hat sie wirklich ›dieses Jahr‹ gesagt ?«
»Ich glaube schon. Aber ihr Deutsch ist, wie du weißt, nicht immer ganz korrekt. Vielleicht hat sie sich falsch ausgedrückt, oder ich habe sie irgendwie falsch verstanden«, vermutet mein schlauer Assistent.
»Und was hat sie über den Tathergang zu berichten gewusst ?« , frage ich und leere danach meine Tasse, als müsse ich mich stärken für das, was noch folgen würde.
17
»Frau Signorelli befand sich angeblich im ersten Stock, als es passierte. Dort habe Radomir in einem Schulzimmer Hausaufgaben erledigt. Mit ihm habe sie sich unterhalten«, berichtet Jürg Lüthi.
»Aber Radomir macht eine Lehre als Landschaftsgärtner. Was tut er in der HMS ? Warum gibt er sich dort als fleißiger Schüler aus ?« , frage ich.
»Er vertrieb sich vermutlich die Zeit bis zum Rendezvous mit Melanie .«
»Das hatte er doch soeben verpasst? Warum ging er um 16 Uhr nicht einfach nach unten, um seine Freundin zu treffen? War es wirklich Radomir, der im ersten Stock herumlungerte? Bist du dir da sicher ?« , will ich wissen.
»Frau Signorelli kann es bezeugen. Sie habe ihm gesagt, seine Freundin warte unten auf ihn. Er habe sich für die Mitteilung bedankt, sei aber dennoch nicht sofort nach unten gegangen, sondern habe zuerst noch etwas mit ihr geplaudert. Es habe sie gefreut, sich mit dem jungen Mann auf Italienisch zu unterhalten .«
»Italienisch? Spricht Radomir nicht Serbisch? Kann er auch Italienisch? Hat Frau Signorelli allenfalls Radomir mit Giovanni Righetto verwechselt? Der hätte tatsächlich Grund, in der HMS Aufgaben zu machen .«
»Auch möglich«, meint Jüre.
»Und der Mord? Was hat sie gesehen ?«
»Nichts. Wie gesagt. Immerhin habe sie gehört, wie der Fulehung das Haus betreten habe, wie er hingefallen und der Täter weggerannt sei, nachdem er die Türe zugeknallt habe«, sagt Jüre.
»Das stimmt mit Geissbühlers Angaben einigermaßen überein. Mit Ausnahme der Tatsache, dass Frau Signorelli ursprünglich der Meinung war, der Fulehung habe das Haus wieder verlassen und die
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