Narrentod
Zähnen festgeklemmt und auf der anderen Seite mit einer Hand festgehalten wird. Mit einem entschlossenen Zwick spaltet man eine kantige Sprieße der süßen Speise ab. Dass dabei die letzten Amalgamfüllungen mitbrechen, weiß Schmerzeli Akert nicht genug zu rühmen.
»Super gemacht, Stef !« , komplimentiert einer der Schützen.
»Easy, Murer«, ein anderer.
Da begreife es auch ich. Stefan Murer, der Favorit, hat tatsächlich gewonnen. Und schon stürzt eine Dame in roter Uniform herein. Bei der stürmischen Stadthostess kann es sich nur um Stefans Mutter handeln. Frau Murer wirkt überglücklich, ja euphorisch. Sie ist ganz aus dem Häuschen und bewegt ihren Sohn zur besorgten Frage: »Hey Mam, bist du auf Koks ?«
Frau Murer findet die Frage ihres siegreichen Sohnes nicht besonders lustig. Aber sie hilft ihr offensichtlich, sich zu beruhigen. Zur Strafe wird Stefan vor den Augen der versammelten Schützengesellschaft von der Mami abgeknutscht. Dann ertönen Schellen wie von einer Ziegenherde, und die peinliche Mutter-Sohn-Inszenierung verliert an Bedeutung.
Sekunden danach knallt die Türe des Schießstandes wie eine Granate auf, und im hölzernen Rahmen steht der leibhaftige Fulehung.
Auf seiner Brust prangt ein schwarzer Stern mit weißem Kern und goldgelber Umrandung. Der wilde Kerl bleibt kurz stehen, scheint zu schnuppern wie ein Hund, wendet ruckartig seine haarige Fratze von links nach rechts, sucht mit seinen bodenlos traurigen Augen den Raum ab und fragt schließlich mit unvergesslicher Donnerstimme: »Wer hat ihn erwischt?«
Die Kadetten, die sich alle so gut es geht die Wänden entlang drücken, zeigen synchron wie ein jungfräuliches Wasserballett auf Stefan Murer. Schnurstracks und mit festem Schritt geht der Hofnarr auf den verdatterten Schützenkönig zu, packt seine Hand, schüttelt sie so kräftig, dass nicht nur die Schellen am Kostüm bimmeln, und sagt mit deutlicher Stimme: »Stefeli, ich gratuliere dir ganz herzlich!«
Kaum ist der Satz verklungen, stößt Frau Murer neben ihrem erröteten Kadettenoberleutnant einen kurzen, ungläubigen Schrei aus und sinkt filmreif in Ohnmacht. Ein geistesgegenwärtiger Kadett verhindert, dass sie sich bei ihrer unerwarteten Demonstration irdischer Gravitationskräfte den Kopf aufschlägt. Ein weiterer Kadett wählt mit seinem Handy die Nummer 144 und alarmiert Hilfe.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich bis dahin dem hektischen Drama völlig tatenlos beigewohnt habe. Kleiner Trost: Ich stehe neben Frau Doktor Akert, die sich offenbar nicht daran erinnert, Medizin studiert zu haben. Aber gehört Murers Szene überhaupt in das Kapitel der medizinischen Notfälle?
Eine geistesgegenwärtige Kadettin hat im Stübli ein Glas Wasser geholt und versucht nun, die totenblasse Mutti zum Trinken zu bewegen. Die gut gemeinten Tropfen laufen aber links und rechts aus den Mundwinkeln der Ohnmächtigen und versickern im bunten Seidenschal der Hostessuniform.
Inzwischen drängen Heerscharen von begeisterten, ehemaligen Armbrustschützen in den engen Raum, um dem neuen Helden zu gratulieren. Der steht völlig überfordert mitten im Raum und macht keinen Wank. Die Gäste des Stübli strömen unglücklicherweise ebenfalls Richtung oberes Stockwerk, verstopfen die Treppe zum Schützenstand endgültig und sperren jenen Kadetten den Abzug, die das Schützenhäuschen zu verlassen suchen.
Mitten im Gedränge macht sich Frau Wenger vom Tägu bemerkbar: »So, Burschen. Lasst mich durch! Ich bin von der Presse !« Dazu hält sie demonstrativ eine Fotokamera in die Höhe. Die Jungs quittieren ihre Aufforderung mit Gelächter. Auch für sie gibt es kein Durchkommen. Da ertönt schon die Sirene des herannahenden Krankenwagens. Das Spital liegt nur wenige Hundert Meter vom Geschehen entfernt. Die dicht gedrängten Festbesucher auf der Straße, die um- und fehlgeleiteten Privatautos, die blockierten Busse der städtischen Verkehrsbetriebe und der völlig überforderte Sicherheits- und Verkehrsdienst bringen es zustande, dass der Rettungswagen trotz Blaulicht und Horn im Durcheinander des Berntorkreisels stecken bleibt.
Soweit durch die engen Schießscharten zu erkennen ist, trennen die Sanität noch etwa 50 Meter Luftlinie von der Patientin, die von allem nichts mitbekommt. Sie hat das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Ein schlechtes Zeichen? Hoffentlich nicht. Warum aber hat sie die Begegnung mit dem kostümierten Kinderschreck derart mitgenommen? Warum kniet
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