Narrenturm - Roman
nach Ungarn und lasse sie hier stolz und glorreich zurück. Ich habe eine Gelegenheit, ich habe einen Verbündeten, ich habe den Feind meiner Feinde gefunden. Czirne hat angekündigt, dass er den Sterz’ und Aulock die Gedärme herausreißen wolle. Vielleicht ist es unnütz, vielleicht ist es zu irdisch, vielleicht unwürdig, vielleicht sogar sinnlos, aber ich will ihm dabei helfen, und ich will dabei sein. Ich will zuschauen, wenn er das tut.«
Samson Honig schwieg. Und Reynevan wunderte sich zum wer weiß wievielten Male, welch große Nachdenklichkeit und kluge Sorge sich in den trüben Augen und auf dem Idiotengesicht spiegeln konnten. Und ein stummer, aber äußerst beredter Vorwurf.
»Scharley«, stotterte er und zog das Zaumzeug fest, »Scharley hat mir geholfen. Das ist wahr. Er hat viel für mich getan. Aber du hast doch selbst gehört, du warst selbst Zeuge . . . Und nicht nur einmal. Sooft ich die Rache an den Sterz’ erwähnt habe, hat er abgelehnt. Und dabei auch noch gespottet und mich wie einen dummen Jungen behandelt. Er hat mir kategorisch seine Hilfe verweigert, ja, du hast es selbst gehört, sogar Adele hat er herabgesetzt, über sie gelacht und ständig versucht, mich von der Reise nach Münsterberg abzubringen!«
Das Pferd schnaubte und stampfte auf, als hätte sich seine Nervosität auf das Tier übertragen. Reynevan atmete tief durch und wurde ruhiger.
»Sag ihm, Samson, er soll mir nicht gram sein. Verdammt, ich bin nicht undankbar, ich weiß genau, wie viel er für mich getan hat. Aber ich danke ihm wohl am besten damit, dass ich fortgehe. Er hat selbst gesagt: Ich bin das größte Risiko. Ohne mich wird er es leichter haben. Euch beiden . . .«
Er schwieg.
»Ich möchte, dass du mit mir kommst. Aber ich schlage esdir nicht vor. Das wäre hässlich und unehrenhaft von mir. Das, was ich beabsichtige, ist eine riskante Sache. Mit Scharley bist du eher in Sicherheit.«
Samson Honig schwieg lange.
»Ich werde dich nicht von deiner Absicht abbringen«, sagte er schließlich. »Ich will dich nicht unnötigem Zwist und Zeitverlust aussetzen, wie du das so schön genannt hast. Ich halte mich sogar mit meiner Meinung über den Sinn eines solchen Unterfangens zurück. Ich will auch die Sache nicht noch verschlimmern und dir ins Gewissen reden. Aber dessen sei dir bewusst, Reinmar, wenn du fortgehst, nimmst du meine Hoffnung auf eine Rückkehr in meine Welt und in meine eigene Gestalt mit.«
Reynevan schwieg lange.
»Samson«, sagte er schließlich, »antworte mir. Ehrlich, wenn du kannst. Bist du wirklich . . . Bist du tatsächlich . . . Bist du . . . Das, was du über dich gesagt hast . . . Wer bist du?«
»Ego sum qui sum«,
antwortete Samson sanft. »Ich bin der, der ich bin. Schenken wir uns diese Abschiedsbekenntnisse. Sie bringen nichts, sie rechtfertigen nichts, und sie ändern nichts.«
»Scharley ist ein weltgewandter und tatkräftiger Mensch«, sagte Reynevan schnell. »Du wirst sehen, in Ungarn wird er dich sicher mit jemandem zusammenbringen, der . . .«
»Reite los. Reite schon, Reinmar.«
Im ganzen Talkessel herrschte dichter Nebel. Zum Glück lagerten seine Schwaden auf geringer Höhe, direkt über dem Erdboden, deshalb lief man – einstweilen wenigstens – nicht Gefahr, sich zu verirren; man konnte sehen, wo der Weg entlangführte, seinen Verlauf bestimmte deutlich sichtbar eine Reihe von aus dem weißlichen Gewölk aufragenden, krummen Weiden, wilden Birnbäumen und Hagenbuttensträuchern. Darüber hinaus blinkte im Dunkel undeutlich ein tanzendes Lichtlein und wies den Weg – die Laterne von Hayn von Czirnes Schar.
Es war sehr kalt. Als Reynevan am Weigelsdorfer Wasserüber die Brücke ritt und in den Nebel eintauchte, schien es ihm, als falle er in eiskaltes Wasser. Was soll’s, dachte er, schließlich haben wir schon September.
Die sich ringsum erstreckenden weißen Nebelbänke warfen das Licht zurück und ließen eine relativ gute Sicht nach der Seite zu. Reynevan selbst jedoch ritt in völliger Dunkelheit, kaum dass er die Ohren seines Pferdes sehen konnte. Das größte Dunkel herrschte seltsamerweise in der Mitte des Weges, inmitten der Allee von Bäumen und dichten Büschen. Letztere hatten zuweilen derart suggestiv dämonische Silhouetten, dass der Jüngling unter diesem Eindruck immer wieder erbebte und unwillkürlich die Zügel anzog, was sein ohnehin verängstigtes Tier noch mehr erschreckte. Er ritt weiter und versuchte, sich wegen seiner
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