Narrenturm - Roman
sechs Jahren nicht umsonst verzehrt hatte. Die Hufe trommelten auf den harten Boden, Sträucher und hohe Gräser, die es im wilden Galopp streifte, rauschten, und Zweige peitschten. Schade, dass Dzierżka de Wirsing dies nicht sieht, dachte Reynevan, obwohl er eigentlich wusste, dass sich seine Reitkünste momentan hauptsächlich darauf beschränkten, sich irgendwie im Sattel zu halten. Aber, dachte er dann, das ist auch schon was wert.
Er hatte sich wohl etwas zu früh gefreut, denn das Pferd entschloss sich gerade, über einen umgestürzten Baumstamm zu setzen. Und es sprang auch sehr geschickt, nur dass hinter dem Stamm eine Wegbiegung war. Die durch die plötzliche Richtungsänderung verursachte Bewegung löste seinen Griff, Reynevan flog in die Kletten, die zum Glück so hoch und so dicht waren, dass sie die Heftigkeit seines Sturzes etwas minderten. Aber der Aufprall auf dem Erdboden presste ihm völlig die Luft aus den Lungen, so dass er sich stöhnend einrollte.
Es gelang ihm nicht, sich wieder auszustrecken. Vitelozzo Gaetani, der ihn verfolgt hatte, sprang dicht neben ihm aus dem Sattel.
»Ausreißen wolltest du?«, krächzte er. »Vor mir? Du Küken!«
Er schickte sich an, ihn zu treten, aber er trat nicht zu. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Scharley vor ihm, versetzte ihm einen Schlag gegen die Brust und spendierte ihm dann seinen Lieblingstritt dicht unterm Knie. Aber der Italiener ging nicht zu Boden, er taumelte nur, riss sein Schwert aus der Scheide und schlug in Kopfhöhe zu. Der Demerit brachte sich geschickt außer Reichweite der Klinge und zog seine eigene Waffe blank, einen Krummsäbel. Er schwang ihn, hieb überkreuz, der Säbel funkelte in seiner Hand wie ein Blitz und zischte wie eine Schlange.
Gaetani ließ sich durch diese Demonstration der Fechtkunstnicht abschrecken, sondern zog sein Schwert und drang mit wildem Geschrei auf Scharley ein. Sie trafen waffenklirrend aufeinander. Dreimal.
Beim vierten Mal gelang es dem Italiener nicht, den Schlag des bedeutend schnelleren Säbels zu parieren. Er erhielt einen Streich auf die Wange, Blut strömte hervor. Das genügte ihm nicht, er wollte weiterkämpfen, aber Scharley ließ ihm keine Chance. Er sprang hinzu und stieß ihm den Säbel zwischen die Augen. Gaetani stürzte in die Kletten. Er stöhnte erst, als er zu Boden sank.
»Figlio di puttana!«
»Stimmt wohl«, Scharley wischte seine Klinge mit Blättern ab. »Aber was soll’s, man hat schließlich nur eine Mutter.«
»Ich will ja nicht stören«, sagte Samson Honig, der mit drei Pferden aus dem Nebel auftauchte, darunter auch Reynevans schnaubender, schaumbedeckter Brauner, »aber wie wär’s denn, wenn wir fortritten? Und vielleicht im Galopp?«
Die milchige Hülle riss auf, der Nebel lichtete sich und verschwand im Schein der Sonne, die sich durch die Wolken hindurchkämpfte. Die in den
chiaroscuro
der langen Schatten getauchte Welt wurde plötzlich hell, glänzte und explodierte in Farben. Genau wie bei Giotto. Natürlich nur, wenn man Giottos Fresken kannte.
Die roten Dachziegel der Türme des nahen Frankenstein glänzten.
»Und jetzt«, sagte Samson Honig, der den Anblick genoss, »auf nach Münsterberg!«
»Nach Münsterberg!« Reynevan rieb sich die Hände. »Wir reiten nach Münsterberg! Freunde . . . Wie kann ich euch nur danken?«
»Darüber reden wir noch«, versprach ihm Scharley. »Vorläufig aber . . . Steig ab!«
Reynevan gehorchte. Er wusste, was ihn erwartete. Und er hatte sich nicht geirrt.
»Reynevan von Bielau«, sagte Scharley entschieden stolz und feierlich. »Sprich mir nach: Ich bin ein Dummkopf!«
»Ich bin ein Dummkopf . . .«
»Lauter!«
»Ich bin ein Dummkopf!«, erfuhren die Gottesgeschöpfe, die die Umgebung bevölkerten und eben erwachten: die Zwergmäuse, die Kröten, die Unken, die Hamster, die Fasane, die Goldammern, die Kuckucke, ja, sogar die Grauen Fliegenschnäpper, die Fichten-Kreuzschnäbel und die Feuersalamander.
»Ich bin ein Dummkopf«, sprach Reynevan Scharley nach. »Ein Patentdummkopf, ein Dummerjan, ein Kretin, ein Idiot und ein Narr, den man im Narrenturm einschließen sollte!«
»Was ich mir auch ausdenke, erweist sich als der Gipfel der Dummheit, was immer ich auch tue, übersteigt diesen Gipfel noch. Ich gelobe feierlich, dass ich mich bessern werde.«
»Es ist ein Glück für mich«, ging diese Morgenlitanei in den feuchten Wiesen weiter, »ein unverschämtes Glück, dass ich Freunde habe, die mich
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