Narrenturm - Roman
beobachteten. Allerdings war Scharley ein viel zu schlauer Fuchs, um aufzufallen.
Aber jemand anders hatte ihn bemerkt.
Ihre Frisur war verändert. Damals in Brieg hatte sie einen dicken Zopf getragen, jetzt war das strohblonde Haar in der Mitte gescheitelt und zu zwei Zöpfen geflochten, die über den Ohren zu Schnecken geformt waren. Auf der Stirn trug sie einen Goldreif, sie war in ein hellblaues, ärmelloses Kleid gehüllt, und unter dem Kleid hatte sie ein weißes Batisthemd, eine
chemise
.
»Gnädiges Fräulein«, der Waffenknecht räusperte sich und kratzte sich unter der Mütze am Kopf, »das ist nicht erlaubt . . . Ich bekomme Schwierigkeiten . . .«
»Ich will mit ihm nur ein paar Worte wechseln.« Sie knabberte schelmisch an ihrer Unterlippe und stampfte ein wenig kindisch mit dem Fuß auf. »Ein paar Worte und nicht mehr. Sprich zu keinem davon, und die Schwierigkeiten gehen an dir vorüber. Und jetzt dreh dich um. Und lausche nicht.«
»Wofür denn diesmal, Aucassin?«, fragte sie ihn und zwinkerte fast unmerklich mit ihren hellblauen Augen. »Wofür in Fesseln und bewacht? Sieh dich vor! Wenn du antwortest, der Liebe wegen, werde ich böse auf dich.«
»Und dennoch ist es die Wahrheit«, seufzte er. »Im Allgemeinen.«
»Und im Besonderen?«
»Aus Liebe und aus Dummheit.«
»Oho! Jetzt bist du schon glaubwürdiger. Aber erkläre es mir doch bitte.«
»Wenn meine Dummheit nicht gewesen wäre, wäre ich jetzt schon in Ungarn.«
»Ich werde auch so alles erfahren«, sie blickte ihm direkt in die Augen, »alles. Jedes Detail. Aber ich möchte dich nicht am Galgen sehen.«
»Ich freue mich, dass sie dich damals nicht eingeholt haben.«
»Sie hatten keine Chance.«
»Gnädiges Fräulein«, der Waffenknecht wandte sich um und hüstelte hinter vorgehaltener Faust, »habt Erbarmen . . .«
»Leb wohl, Aucassin.«
»Bleib gesund, Nicoletta.«
Zwanzigstes Kapitel
in dem sich wieder einmal die alte Wahrheit bestätigt, dass man, egal, wie es auch immer kommen mag, auf Studienfreunde stets zählen kann.
W eißt du«, Reynevan, sagte Heinrich Hackeborn, »man ist allgemein der Ansicht, dass die Quelle allen Unglücks, das dir begegnet, alles Bösen, das dich trifft, und der Grund für dein trauriges Los diese Französin ist, Adele Sterz.«
Reynevan ignorierte diese aufschlussreiche Mitteilung. Es juckte ihn im Kreuz, aber wie sollte man sich kratzen, wenn die Hände an den Gelenken zusammengebunden waren und die Ellenbogen zusätzlich mit einem Ledergurt an die Seiten gedrückt wurden. Die Pferde der Wachmannschaft klapperten mit den Hufen den holprigen Weg entlang. Die Schützen wiegten sich schläfrig in ihren Sätteln.
Im Turm des Münsterberger Schlosses hatte er ganze drei Tage gesessen. Aber er war weit davon entfernt aufzugeben. Er war gefangen, seiner Freiheit beraubt, das war wohl wahr, er wusste nicht, ob er den morgigen Tag erleben würde, das stimmte auch. Aber bisher hatten sie ihn nicht geschlagen, sondern ihm Nahrung gereicht, schlechte und karge Kost zwar, dafür aber jeden Tag, daran hatte es in letzter Zeit gemangelt, umso lieber war es ihm nun.
Er schlief schlecht, und das nicht nur wegen der Flöhe, die, von imponierender Größe, das Stroh bevölkerten. Sobald er die Augen zumachte, sah er Peterlins bleiches, kalkweißes Gesicht vor sich. Oder Adele und Johann von Münsterberg in verschiedenen Positionen. Er wusste selbst nicht, was schlimmer war.
Das vergitterte Fensterchen in der dicken Mauer hatte nur den Blick auf ein winziges Stück Himmel freigegeben, aber Reynevan hatte unentwegt in der Nische gestanden und sich an das Gitter geklammert, seine Hoffnung darauf setzend, dass er jeden Moment Scharley hören würde, der, eine Feile zwischen den Zähnen, wie eine Spinne die Mauer heraufkletterte. Oder er hatte zur Tür geblickt und davon geträumt, dass sie durch einen kräftigen Tritt Samson Honigs aus den Angeln flöge. Sein Glaube an die Allmacht seiner Freunde war nicht ohne Grund unerschütterlich und hatte ihn bei Laune gehalten.
Natürlich war die Rettung nicht gekommen. Am frühen Morgen des vierten Tages holte man ihn aus der Zelle, band ihn und setzte ihn aufs Pferd. Er verließ Münsterberg durch das Patschkeyer Tor, eskortiert von vier berittenen Bogenschützen, einem Waffenknecht und einem Ritter in voller Rüstung, dessen Schild der achtstrahlige Stern der Hackeborns zierte.
»Alle sagen«, fuhr Heinrich Hackeborn fort, »es war dein Pech, dass du die
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