Narrenturm - Roman
Füßen sinkst.«
»Nicoletta . . .«
»Nicht so. Anders.«
Sie stand auf. Von den Feuern tönten Lachen und wilder Gesang herüber.
Veni, veni, venias,
ne me mori, ne me mori facias!
Hyrca! Hyrca!
Nazaza!
Trillirivos! Trillirivos! Trillirivos!
Sie begann sich zu entkleiden, langsam, ohne sich zu übereilen und ohne die Augen zu senken, die in der Dunkelheit glühten. Sie öffnete den silberbeschlagenen Gürtel, sie zog das wollene Leibchen aus, unter dem sie nur eine dünne, weiße
chemise
trug. Bei der
chemise
zögerte sie leicht. Das war ein deutliches Zeichen. Er näherte sich ihr langsam und berührte sie sanft. Das Hemd war, er konnte es fühlen, aus flandrischem Gewebe genäht, das man nach seinem ersten Produzenten, Baptiste de Cambrai, benannt hatte. Die Luxusware des Herrn Baptiste hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des Textilgewerbes. Und auf Sex.
Pulchra tibi facies,
oculorum acies,
capillorum series –
o quam clara species!
Nazaza!
Vorsichtig half er ihr, noch sachter, behutsamer den instinktiven Widerstand bezwingend, die leise, unwillkürliche Angst.
Als das Produkt des Herrn Baptiste zwischen den anderen Kleidern auf dem Boden lag, seufzte er sehnsüchtig auf, aber Nicoletta gestattete ihm nicht lange, sich in ihrem Anblick zu verlieren. Sie schmiegte sich eng an ihn, umfing ihn mit den Armen und suchte mit den Lippen seinen Mund. Er gehorchte. Und was seinen Augen verwehrt blieb, gestattete er seinen Händen, sich an ihr zu entzücken. Ihr mit zitternden Händen und Fingern zu huldigen.
Er kniete nieder. Er sank zu ihren Füßen. Und huldigte ihr. Wie Parzival dem Gral.
Rosa rubicundior,
lilio candidior,
omnibus formosior,
semper, semper in te glorior!
Sie kniete ebenfalls nieder und umschlang ihn fest.
»Verzeih mir«, flüsterte sie, »dass ich keine Übung darin habe.«
Nazaza! Nazaza! Nazaza!
Die fehlende Übung störte ihn nicht. Überhaupt nicht.
Die Stimmen und das Lachen der Tanzenden schienen weiter entfernt. Sie wurden leiser, und auch die durch sie ausgedrückte Leidenschaft wurde schwächer. Nicolettas Arme zitterten leicht, er spürte, wie die Schenkel, die ihn umschlungen hielten, bebten. Er sah, wie ihre geschlossenen Augenlider und die zerbissene Unterlippe zitterten.
Als sie ihn schließlich freigab, richtete er sich auf. Und bewunderte und verehrte. Das Oval des Gesichts erschien wie von Robert Campin gemalt, der Hals wie die der Madonnen von Parler. Und dann – die schlichte, schamhafte
nuditas virtualis
– die kleinen, runden Brüste mit den vor Verlangen festen Brustwarzen. Die schmale Taille, die schmalen Hüften. Der flache Bauch. Die schamhaft angezogenen Schenkel, voll, schön, der höchsten Komplimente würdig. Vor lauter Komplimenten und Lobpreisungen schwirrte dem berückten Reynevan nur so der Kopf. Schließlich war er belesen, ein trouvère, ein Liebhaber – seiner Vorstellung nach – mindestens wie Tristan, Lancelot, Paolo da Rimini, Guillaume de Cabestaing. Er konnte – und wollte – ihr sagen, sie sei
lilio candidior,
weißer als die Lilie, und
omnibus formosior,
schöner als alle. Er konnte – und wollte – ihr sagen, sie sei
pulchra inter mulieres.
Er konnte – und wollte – ihr sagen, sie sei
forma pulcherrima Dido, deas supereminet omnes, la regina savorosa, Iseult la blonde, Beatrice, Blancheflor, Helena, Venus generosa,
ein
herzeliebez frowelîn, lieta come bella, la Regina del cielo.
All das konnte – und wollte – er ihr sagen. Und konnte nicht ein Wort herausbringen, seine Kehle war wie zugeschnürt.
Sie spürte es. Wusste es. Wie hätte sie es auch nicht spürenund nicht wissen sollen? Denn nur in den Augen des verzückten Reynevan war sie ein Mädchen, das zitterte, sich an ihn schmiegte, die Augen schloss und sich in schmerzender Ekstase auf die Unterlippe biss. Jeder kluge Mann – wäre ein solcher in der Nähe gewesen – hätte sofort erkannt: Das war kein schüchternes und unerfahrenes junges Mädchen – das war eine Göttin, die stolz die ihr gebührende Huldigung entgegennahm. Göttinnen wissen alles und spüren alles.
Und sie erwarten keine Huldigung in Form von Worten.
Sie zog ihn zu sich herab. Das Ritual begann von neuem. Der ewige Ritus.
Nazaza! Nazaza! Nazaza!
Trillirivos!
Vorhin, auf der Lichtung, waren die Worte der Domina nicht ganz in sein Bewusstsein gedrungen, die Stimme, die wie der Wind, der vom Berg herabweht, war, hatte sich im Raunen
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