Narzissen und Chilipralinen - Roman
mir die kalte Schulter.
In der Klinik war es kühl, Licht und Geräusche gedämpft. Miriams Gesicht hatte eine ungesunde blasse Farbe angenommen. Vielleicht erinnerten sie der Geruch und die Atmosphäre an ihren eigenen Aufenthalt hier.
»Sie sieht dir total ähnlich«, flüsterte sie.
Das stimmte, auch wenn Sarah überhaupt nicht wie sie selbst wirkte, so krank und bleich. Dasselbe Blond.
»Unsere Eltern haben immer behauptet, wir hätten sogar das gleiche Lächeln«, sagte Daniel. »Als sie noch lächeln konnte.«
Er wandte sich seiner Schwester zu und begrüßte sie. »Das ist Miriam. Meine Freundin. Ich hab dir am Telefon von ihr erzählt, weißt du noch? Ich bin mir sicher, dass du sie mögen wirst.«
»Äh ...«, sagte Miriam, »glaubst du, sie hört dich?«
»Davon gehe ich aus.« Er setzte sich an die Bettkante und nahm Sarahs kühle, schlaffe Hand in seine. »Sie ist froh, dass du hier bist.«
»Leider ist sie zu bewusstlos, um ihre Begeisterung zu zeigen.« Miriam stand unschlüssig herum und betrachtete den Fuß, der aus der Bettdecke herausragte und an einem komischen Gestell befestigt war. »Was ist denn mit ihrem Bein?«
»Ein komplizierter Bruch«, erklärte er. »Aber wir sollten in ihrer Gegenwart nicht über ihre Verletzungen sprechen.«
»Alles klar«, flüsterte Miriam. »Ich schätze, ich sollte euch beide mal kurz allein lassen. Ich bin nicht so gut darin, mit Komapatienten zu reden. Gibt es hier einen Aufenthaltsraum oder so was?«
»Den Gang runter und dann links.«
»Bis gleich«, flüsterte sie.
Er hielt sie nicht zurück, denn ihm war klar, wie schwer Sarahs Anblick zu ertragen war.
»Wenn du gesund bist, unternehmen wir was zusammen. Sie ist sonst nicht so, echt nicht. Aber jetzt gibt es erst mal Livemusik. Fehler inklusive. Sei bitte nicht zu streng mit mir.« Er holte seine Gitarre aus dem Koffer und begann zu spielen. Vielleicht half es Sarah nicht, aber ihm schon. Die Musik tröstete und beruhigte ihn, und als er die Gitarre weglegte, dachte er: Was auch kommt, ich bin bereit.
Danach saß er eine Weile still an ihrem Bett. Wie spät war es eigentlich? Miriam wartete bestimmt schon.
Auf dem Gang war sie nicht. Stimmt, der Aufenthaltsraum. Er lenkte seine Schritte dorthin und warf einen Blick durch die Scheiben.
Sie saß auf der anderen Seite, vor dem Fenster. Und neben ihr saß Tom.
Daniel wollte schon mit einem freundlichen »Hi, wie geht’s?« eintreten, als er bemerkte, dass die beiden nicht einfach nebeneinander saßen. Er blinzelte, aber das Bild blieb dasselbe.
Sie hielten Händchen.
Er zwinkerte.
Sie hielten immer noch Händchen.
In diesem Moment schaute Miriam hoch, erblickte ihn und zuckte ertappt zusammen. Sie sagte noch etwas zu Tom, dann kam sie zu Daniel. Sie musste an zwei, drei niedrigen Tischchen vorbei, auf denen Wasserflaschen und Becher bereitstanden. An der lachenden Gruppe vorüber, in deren Mitte ein Mann mit Gipsbein saß. Die Strecke zwischen ihnen schien endlos lang.
Dann war sie da, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie ihn überhaupt nicht erreichte. Sie schwieg. Er auch. Auf einmal waren sie beide wie Komapatienten. Keiner von ihnen konnte reden. Daniel konnte nicht einmal mehr atmen.
Oh meine Sonne
,
ich fürchte, ich habe dich erschreckt mit meinem letzten Brief. Das tut mir leid. Ich würde niemals etwas tun, was dich irgendwie verletzt oder dir wehtut. Du bist so schön, ich möchte dich auf Händen tragen. Tag und Nacht denke ich nur an dich. Dass du mir ausweichst, kann ich durchaus nachvollziehen. Diese Gefühle sind so neu und groß, dass sie mich selbst fast erschlagen. Es ist alles anders geworden, die Welt hat aufgehört, sich um sich selbst zu drehen. Alles dreht sich nur noch um dich ... Bitte, denk darüber nach. Lass uns wenigstens darüber reden. Das kannst du doch für mich tun? Mir in die Augen sehen und sagen, dass du nichts für mich empfindest? Könntest du das, ohne zu lügen?
Ich glaube nicht, dass wir die Liebe einfach ignorieren dürfen, denn sie ist ein Geschenk Gottes. Sie ist eine Gabe des Himmels. Es kommt mir so vor, als wärst du direkt vom Himmel, ein Engel, der auf dieser Erde wandelt, um mein Leben zu ändern. Ich bin überwältigt von Gottes Güte, der es so gefügt hat, dass wir uns kennen und alles so gut passt
.
Meinetwegen können wir gleich morgen über alles reden, oder was denkst du?
In banger Erwartung
,
dein Salomo
6.
Michaels Ohren glühen, während er die Aufgaben verteilt.
Weitere Kostenlose Bücher