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Narzissen und Chilipralinen - Roman

Narzissen und Chilipralinen - Roman

Titel: Narzissen und Chilipralinen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Dalinger
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Diskussionen auszuklinken. Auf dem Schulhof ließ er die anderen stehen und wanderte einsam herum. Sobald er die Augen schloss, fühlte er wieder, wie er durch den Fluss schwamm. Wie er tauchte, immer wieder. Wie seine Finger durch Algen und Schlingpflanzen glitten. Die Kälte, die bis auf die Knochen ging. Und den Sog der Strömung.
    Hatte er diesen Fluss jemals geliebt? Auch ihn selbst hätte das Wasser fast das Leben gekostet. Es war, als hätte es sich jetzt die Beute geholt, die ihm damals entgangen war, und dabei knapp danebengegriffen. Er hätte es sein müssen. Er, nicht Miriam.
    Daniel hatte Stöpsel in den Ohren, die Hände in den Taschen vergraben. Deshalb hörte er nicht sofort, dass ihn jemand ansprach.
    Er zog an den Kabeln. »Ja?«
    Es war Tabita. Tabita, die irgendwie grimmiger und blasser wirkte als früher. Sie sah aus, als würde sie kaum essen und dafür düstere Geheimnisse hüten.
    »Hast du was Neues gehört?«, fragte er erschrocken. »Hat man sie gefunden?«
    »Nein.« Ob das gut oder schlecht war? Jedenfalls war es unerträglich. »Aber ich habe was anderes.« Ihre Augen glänzten wie im Fieber. »Finn war da. Hat meine Eltern besucht, sich entschuldigt, dass er nicht auf Miriam aufgepasst hat, dass er sich irgendwie schuldig fühlt. Das Gesülze war echt kaum zu ertragen. Ich bin raus, in den Garten, bis er weg war. Und nachher geh ich in Miriams Zimmer, und weißt du was? Ihre Bibel ist weg. Kommt dir das nicht bekannt vor?«
    Er starrte in ihr Gesicht. Die Augen wirkten unnatürlich groß, viel dunkler als sonst, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen.
    »Weg?«, wiederholte er. So ein verhängnisvolles Wort. Alles verschwand. Alles, woran man hing.
    »Das ist ja wohl eindeutig«, sagte sie. »Finn war bei uns. Er hat ihre Bibel mitgenommen.«
    »Wozu?« Er starrte sie verständnislos an.
    »Dazu fallen mir zwei Möglichkeiten ein«, meinte Tabita. »Als Trophäe. Er sammelt die Bibeln der Mädchen, die er ... ermordet. Oder zweitens: Er bringt sie ihnen, damit sie darin lesen können. Weil Bibellesen doch so wichtig ist.«
    »Damit sie ...«
    »Ja«, bestätigte Tabita und grinste auf einmal. »Das würde heißen, dass beide noch leben.«
    Ihr Lächeln wollte auf ihn überspringen, aber er hielt es gewaltsam zurück. Nur nicht zu schnell hoffen. Nur nicht wieder einer Idee folgen, die ins Nichts führte.
    »Bist du dir überhaupt sicher, dass Miriams Bibel fort ist?«, fragte er. »In ihrem Chaos findet man doch sowieso nichts.«
    An diesem Nachmittag ließ er die Hausaufgaben Hausaufgaben sein. Sie suchten Miriams Zimmer ab.
    Er und Tabita.
    Es war gar nicht so schlimm wie sonst, denn Miriam hatte das meiste einfach unter ihr Bett geschoben. Schlimm war bloß, dass sie nicht dabei war.
    »Oha«, sagte Tabita. »Liebesgedichte. Sollte ich wohl gar nicht lesen. Hör mal:
Weil ich dich zu sehr liebe, dein Bild die Gebete verdrängt, schrillen die Geigen im Dunkeln
. Hübsch, nicht?«
    »Das ist nicht für mich«, sagte Daniel schroff und öffnete einen alten Schuhkarton, der jedoch nur Postkarten und CDs enthielt.
    »Ist es wohl«, sagte sie. »Da steht schließlich dein Name drüber.«
    Er riss ihr das Blatt aus der Hand. »Zeig her.«
    Tatsächlich. Miriam hatte ein Gedicht geschrieben, ausnahmsweise nicht für Tom, sondern für ihn. Hatte sie nicht gesagt, sie würde nur dichten, wenn sie unglücklich war? Nun, offensichtlich war sie das gewesen.
    Er schluckte hart.
    Wenn sie sich nur nicht gerade vorher gestritten hätten. Wenn er ihr erlaubt hätte, zu sagen, was sie ihm sagen wollte. Wenn sie in seinem Boot gesessen hätte und nicht in Finns ...
    »Die Briefe«, stellte Tabita als Nächstes fest, während er noch in das Gedicht vertieft war. »Ich dachte, ihr habt sie zurückgegeben?«
    »Das müssen Kopien sein.«
    »Schön, die nehme ich«, sagte sie. »Das Gute ist: ihre Bibel ist nicht da. Aber das habe ich dir ja gleich gesagt. Außerdem liegt die nicht unter ihrem Bett, die hat sie immer in der Schublade da.«
    Er nahm ihre Worte wie durch einen Nebel wahr. Es tat weh, zu hoffen. Die Hoffnung war wie ein Tier, das sich mit spitzen Krallen an seine Brust hängte, ein kleiner Affe, der nicht losließ.
    Sie hatte ihn geliebt. Sie hatte ein Gedicht geschrieben, das keine Zweifel daran ließ. Und Tabita war felsenfest davon überzeugt, dass sie noch lebte.
    »Erde an Daniel«, sagte sie. »Hörst du mir überhaupt zu? Intelligentes Leben auf diesem Planeten?«
    »Hä?«, fragte

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