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Narzissen und Chilipralinen - Roman

Narzissen und Chilipralinen - Roman

Titel: Narzissen und Chilipralinen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Dalinger
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unterhielten sich leise. Sie blickten auf, als sie ihn bemerkten.
    »Ich fahr noch kurz zu den Weynards rüber.«
    »Jetzt?«
    »Nur nachschauen, ob sie schon da ist. Ob sie sie gefunden haben. Ich will nicht anrufen, falls sie schlafen.«
    Es schien das Normalste von der Welt, um drei Uhr nachts durch die Stadt zu fahren, durch den Regen. Nein, auch hier schlief noch keiner. Auch bei Miriams Familie brannte Licht. Er stellte sein Fahrrad ab, ging durch den Vorgarten und sah durchs Fenster.
    Heute wachten alle. Pastor Weynard und seine Frau saßen auf dem Sofa, sie belauerten das Telefon. Vielleicht beteten sie. Vielleicht schlief Dorle auch, sie hatte die Augen geschlossen.
    Jemand öffnete die Haustür, kaum hörbar. Die Hoffnung wallte in ihm auf, schmerzhaft wie ein Stich, aber es war nur Tabita, die zu ihm in den Garten hinausschlüpfte. »Hey.« Sie fragte nicht, was er hier zu suchen hatte. Sehr klein und verloren kam sie ihm vor, wie sie die Hände ineinander verschränkte und sich auf die Lippe biss. Sie hatte geweint, der Regen prasselte auf sie herunter und ließ ihre Locken dunkler scheinen. Schlaff klebten sie an ihren Wangen.
    »Wo ist er?« Ihre Stimme klang rau und zornig und viel älter als zwölf.
    »Wer?«, fragte Daniel. Auch ihn störte der Regen nicht. Er wunderte sich nur, dass seine Haut die Kälte fühlen konnte, dass ihm noch irgendetwas kalt vorkam, nach dem Fluss.
    »Finn«, sagte Tabita. »Der Mörder.«
    »Finn ist kein Mörder«, sagte Daniel. Langsam ging er zu seinem Fahrrad zurück.
    »Das glaubst du doch selbst nicht!«, rief sie ihm nach. »Natürlich war er es. Weil Miriam ihm auf die Schliche gekommen ist.«
    »Lass gut sein«, brachte er heraus. Er legte die Finger um die Griffe des Lenkers. Wenigstens etwas, woran man sich festhalten konnte, wenn alles in Stücke ging. Wir haben uns gestritten, wollte er sagen. Schon wieder. So wie wir uns in letzter Zeit ständig gestritten haben. Und jetzt ist sie weg. Es war ein Gefühl, als würde er ersticken.
    Er versuchte, seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, und atmete Regen und Dunkelheit.
    Das Mädchen beobachtete ihn. Die Tropfen rannen unablässig über ihr Gesicht. Auf einmal war es wieder herbstkalt. Der Mai hatte sich verzogen und zeigte der Welt die kalte Schulter. Ihm war das nur recht. Sonnenschein wäre jetzt unerträglich gewesen.
    »Wir müssen sie suchen«, sagte Tabita. »Bitte, Daniel. Hilf mir, ich schaff das nicht alleine.«
    »Sie ist tot«, sagte er schroff. Es war das erste Mal, dass er es aussprach, dass er es schaffte, die Worte über seine Lippen zu bringen, und er fragte sich, wie oft er es noch sagen würde. Wie lange es wohl dauerte, bis er es glauben konnte. Vielleicht musste man es tausendmal wiederholen, bis der Verstand auch nur einen Bruchteil davon begriff, bevor die Bedeutung des Wörtchens »tot« den Weg in sein Herz fand.
    In ihm war es so dunkel wie auf dem Grund des Flusses.
    Was hatte er gesungen?
Wohin bring ich meine Dunkelheit, wenn nicht vor dein Angesicht, oh Gott
. Aber nun war die Dunkelheit nichts, was er irgendwo hinbringen konnte, sie war überall. Man konnte sie nirgends abliefern.
    »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagte Tabita. »Sie ist verschwunden. So wie Tine. Und immer ist Finn in der Nähe. Das ist doch auffällig, oder?«
    »Die Briefe waren nicht von ihm, sondern von Michael. Es waren Briefe an Sonja.« Als wenn das noch irgendjemanden interessierte. Dann fiel ihm ein, dass er Stillschweigen geschworen hatte, und er fügte hinzu: »Sag das keinem. Du dürftest das gar nicht wissen.«
    Tabita starrte ihn an. »Echt? Wer sagt das, Finn? Und du glaubst das? Michael hat doch eine ganz andere Schrift. So eine ganz krakelige, die man fast nicht lesen kann. Warum habt ihr mich denn nicht gefragt?«
    Er setzte den Fuß auf die Pedale. Miriam ist tot, wollte er sagen, wollte sie anschreien, damit sie es begriff. Wenn schon er es nicht begreifen konnte.
    Doch stattdessen sagte er: »Geh rein, Tabita. Es ist spät. Deine Eltern haben genug Kummer.«
    Dieses Mädchen musste immer das letzte Wort haben. »Dass sie tot ist, glaube ich erst, wenn ich es sehe!«, rief sie ihm nach.
    Man fand Miriam nicht am nächsten Tag. Auch nicht am übernächsten. Wie lange kann die Hoffnung überleben? Tabita hatte recht: Was man nicht sieht, kann man nicht glauben. So konnte Daniel nicht an Miriams Tod glauben. In der Schule war es das Gesprächsthema. Daniel versuchte sich aus allen

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