Naschkatze
schon wundert, wo ich so lange bleibe, denn ihre Schicht beginnt erst in einer halben Stunde, und jetzt nimmt sie schon seit einer ganzen Weile die Anrufe entgegen, die ich weiterleiten müsste), tippe ich den Code für die Hintertür des Büros (1 – 2 – 3) und eile in die Küche von Pendergast, Loughlin and Flynn.
Dort belade ich meine Arme mit mehreren Sachen – unter dem wachsamen Blick einer Praktikantin, die gerade eine Kaffeepause einlegt -, dann kehre ich in die Damentoilette zurück, wo Jill immer noch herzhaft schluchzt.
»Moment mal...« Ich deponiere meine Beute auf der Ablage neben den Waschbecken und checke das Sortiment. Um eine sorgfältige Auswahl zu treffen, habe ich zu wenig Zeit. Aber ich weiß, was in solchen Situationen dringend benötigt wird. Also knie ich nieder und schiebe die erstbeste, in Plastik gewickelte Süßigkeit unter der Kabinentür hindurch – Drake’s Yodels, kleine Schokoladenkuchen, mit Creme gefüllt. »Da, lassen Sie sich’s schmecken.«
Erst mal Stille und offenbar Verwirrung. Habe ich mir einen Fauxpas erlaubt? Andererseits – wenn ich weine, gibt Shari mir immer Schokolade, und ich fühle mich sofort besser.
»D-d-danke«, flüstert Jill, und der Kuchensnack (obwohl, wenn Sie mich fragen, sind Yodels eher ein Dessert als ein Snack) verschwindet aus meiner Hand. Sekunden später höre ich Plastik knistern.
»Wollen Sie Milch dazu?«, schlage ich vor. »Ich habe zwei Kartons. Entrahmt. Da gab’s auch Vollmilch, aber – nun, Sie wissen ja... Und Diätcola. Und richtige Cola, falls Sie ein bisschen Zucker brauchen.«
Noch ein Knistern. Dann eine tränenreiche Antwort. »Ja, richtige Cola wäre fantastisch.«
Ich öffne die Dose und stecke sie unter der Tür hindurch.
Eine Zeit lang erklingt nur leises Schlürfen. Dann fragt Jill: »Haben Sie noch mehr Yodels?«
»Klar«, versichere ich besänftigend. »Und Devil Dogs.« Das sind andere Kuchensnacks.
»Yodels, bitte.«
Ich schiebe eine weitere Packung in die Kabine. »Wissen Sie«, sage ich beiläufig. »Wenn Sie’s irgendwie tröstet – ich weiß, was Sie durchmachen. Nun ja, nicht genau. Aber ich arbeite sehr oft für Bräute. Und die sind alle furchtbar nervös. Kein Wunder – so eine Hochzeit ist ja wirklich der reinste Stress.«
»Ach, tatsächlich?« Jill lacht bitter. »Hassen alle künftigen Schwiegermütter diese armen Bräute? So wie meine mich hasst?«
»Nicht alle.« Ich gönne mir einen Devil Dog. Nur die
cremige Füllung, die hat weniger Kohlehydrate als der Kuchenteil. Dann denke ich kurz nach. »Was ist denn los mit Ihrer Schwiegermutter in spe?«
»Oh, meinen Sie – abgesehen davon, dass sie behauptet, ich sei ein habgieriges Biest, das ihrem Sohn sein rechtmä ßiges Erbe stehlen will?« Jetzt knistert noch mehr Plastik. »Wo soll ich anfangen?«
»Also – eh...« Tu’s nicht, mahnt eine innere Stimme. Tu’s nicht, es lohnt sich nicht.
Aber eine andere innere Stimme erklärt mir, es sei meine Pflicht, einer Geschlechtsgenossin zu helfen. Und ich dürfe eine bedauernswerte junge Frau, die so schrecklich leidet, nicht im Stich lassen. Vor allem, weil’s mir ganz leichtfallen würde, eins ihrer Probleme zu lösen.
Entschlossen spreche ich weiter. »Als ich sagte, ich würde für Bräute arbeiten, meinte ich – nicht hier . Ich bin eine zertifizierte Spezialistin für Brautkleider. Nun ja, das heißt – noch nicht ganz. Vor allem bin ich darauf spezialisiert, alte Brautkleider zu restaurieren. Die richte ich für moderne Bräute her. Nur falls Ihnen diese Information hilft.«
Einige Sekunden lang dringt kein Geräusch aus der Kabine. Dann höre ich noch ein Knistern, die Toilettenspülung, und danach öffnet sich die Tür. Jill kommt heraus, die Augen und Wangen gerötet, das Haar zerzaust, Yodel-Krümel auf dem Pullover. Argwöhnisch starrt sie mich an. »Machen Sie sich lustig über mich?« Das hört sich nicht humorvoll an. Nicht einmal freundlich.
Ups.
»Tut mir leid.« Ich richte mich von der Khakiwand auf, an die ich mich gelehnt habe. »In dieser Stadt kursieren
gewisse Gerüchte. Angeblich will Ihre künftige Schwiegermutter Sie zwingen, ein Kleid zu tragen, das in der Familie MacDowell von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Und ich wollte Ihnen nur sagen – da kann ich Ihnen helfen.«
Ausdruckslos erwidert sie meinen Blick. Sie benutzt kein Make-up. Aber sie gehört zu diesen gesunden Frischluftfanatikerinnen, die darauf verzichten
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