Naschkatze
arbeite, ist mir noch keine einzige Frau in der Damentoilette begegnet. Bestimmt ist das hier das am seltensten benutzte WC von New York.
Als ich an diesem Tag hineingehe und das Spray in meinen Hals sprühe (und meine Lippen nachziehe und das Haar toupiere), erlebe ich keine Ausnahme. Wie gewohnt bin ich allein in der sehr sauberen, sehr beigefarbenen Toilette. Ich mustere mein Gesicht im riesigen Spiegel über den Waschbecken und bin froh, weil ich letzte Nacht endlich wieder in meinem eigenen (nun ja, in Mrs. de Villiers’) Bett geschlafen habe statt auf der ausziehbaren Couch. Allmählich verblassen die Schatten unter meinen Augen, das Resultat der qualvollen Nächte, in denen ich mich ständig umhergewälzt habe. Wenn ich erst eine zertifizierte Spezialistin für Brautkleider bin, meinen eigenen Laden betreibe
und endlich etwas Geld besitze, werde ich eines dieser komfortablen Pottery-Barn-Ausziehsofas kaufen, ohne Metallstange in der Mitte. Das schwöre ich mir.
Okay, zuerst werde ich mir ein Apartment kaufen, mit genug Platz für meine Sachen. Dann wird niemand drüber stolpern und alles demolieren.
Danach kaufe ich die Couch.
Und wahrscheinlich muss ich gar nicht darauf schlafen, denn wenn Lukes Eltern zu Besuch kommen, werden sie in dem Apartment übernachten, das seiner Mutter gehört, und nicht in meinem …
Während ich mich diesem erfreulichen Tagtraum hingebe, höre ich etwas. Erst glaube ich, mein Schuhabsatz würde über den Fliesenboden scharren. Aber dann merke ich, dass ich nicht allein in der Damentoilette von Pendergast, Loughlin and Flynn bin.
Die Tür zur letzten Kabine ist geschlossen. Ehe ich diskret davonschleichen kann, um der Person ihre Privatsphäre zu gönnen, höre ich’s wieder. Ein Wimmern. Als würde ein Kätzchen jammern.
Oder jemand weinen.
Ich bücke mich, um festzustellen, ob ich die Schuhe unter dem Türspalt erkenne. Ganz eindeutig – da drin heult Jill Higgins, die derzeit berühmteste Braut von New York. Weil diese Füße in Timberlands stecken.
Und bei Pendergast, Loughlin and Flynn trägt niemand außer Jill solche Stiefel.
Anscheinend braucht sie eine Erholungspause in der Toilette und will ein paar Tränen vergießen, bevor sie mit Chaz’ Dad redet.
Da ich eine Angestellte dieser Kanzlei bin, sollte ich
mich lautlos entfernen und so tun, als hätte ich nichts bemerkt.
Aber ich bin auch eine noch nicht zertifizierte Spezialistin für Brautkleider und – noch wichtiger – ein Mädchen, das ganz genau weiß, wie es ist, wenn man ständig gepiesackt wird (so wie ich von meinen Schwestern, in all den Jahren meiner Existenz). Deshalb darf ich mich nicht einfach umdrehen und weggehen. Vor allem, weil ich weiß, dass ich ihr helfen kann.
Und so klopfe ich leise an die Kabinentür – obwohl mein Herz wie rasend pocht, das gebe ich zu. Immerhin bin ich auf diesen Job angewiesen.
»Eh – Miss Higgins?«, rufe ich durch die Tür. »Ich bin’s – Lizzie, die Empfangsdame.«
»Oh …«
Nie zuvor habe ich eine Silbe gehört, in der so viele Emotionen mitgeschwungen wären. Dieses »Oh« trieft geradezu vor Angst und Entsetzen. Vermutlich hat Jill Angst davor, was ich tun könnte, nachdem ich John MacDowells heulende Verlobte auf einem WC ertappt habe. Werde ich die Presse informieren? Oder eine Packung Kleenex unter der Tür hindurchschieben? Oder davonlaufen und Esther holen? Zudem verrät das »Oh« noch andere Gefühle – Selbsthass, Verlegenheit, sogar eine gesunde Portion Zerknirschung.
»Keine Bange, das ist schon okay«, versuche ich sie zu beruhigen. »Manchmal will ich mich auch da drin verkriechen und weinen. Eigentlich jeden Tag.«
Da lacht sie. Aber es klingt eher wie ein tränenfeuchtes Glucksen.
»Soll ich Ihnen was bringen?«, frage ich. »Papiertaschentücher?
Oder eine Diätcola?« Keine Ahnung, warum ich glaube, sie würde Letzteres brauchen. Jedenfalls geht’s mir immer besser, wenn ich eine prickelnde kalte Diätcola trinke. Aber die wird mir nur selten angeboten.
»Nei-i-in«, erwidert Jill mit zitternder Stimme. »Nicht nötig – es ist nur...«
Und dann beginnt sie ernsthaft zu weinen. Ein lautes, kindliches Schluchzen dringt aus der Kabine.
»Wow«, murmele ich, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie es ist, wenn man in so tiefer Verzweiflung versinkt. Und ich weiß auch, was mir in solchen Momenten hilft. »Warten Sie, gleich bin ich wieder da.«
Ich laufe aus der Toilette. Um Tiffany nicht zu begegnen (die sich sicher
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