Naschmarkt
mich Richtung Lesebühne.
Als würde ich mich über ein elektrisch geladenes Drahtseil bewegen, gehe ich vorsichtig zwischen den Menschen durch und die Stufe zum Lesesofa hinauf. Dort steht meine Mutter, doch mehr als einen kurzen Blick habe ich nicht für sie übrig. Meine ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, nicht zu stolpern, als ich auf den Mann zugehe, der mit seinen Nachrichten in den vergangenen Wochen mein Leben gründlich auf den Kopf gestellt und es vor ein paar Minuten komplett zerstört hat. Als wir uns endlich gegenüberstehen, beiße ich mir fest auf die Zunge, bis es schmerzt.
Allein die Art, wie er mich siegessicher angrinst, genügt, um diverse unpassende Vokabeln in meine Kehle rutschen zu lassen. Es braucht nur einen winzigen Schubs, und sie purzeln ihm entgegen, mit einem gewaltigen Donnerknall. Der Applaus der versammelten Zuhörer klingt ein wenig wie statisches Fernsehrauschen. Ob es den Schuss übertönt, mit dem ich Glahnz laut Drehbuch meines Kopfkinos innerhalb der nächsten Sekunden niederstrecke? Anschließend springe ich in das Fluchtauto, das selbstverständlich mit laufendem Motor vor dem Lokal parkt, und verfasse in einem südamerikanischen Feriendomizil in einem Land ohne Auslieferungsabkommen meine Memoiren mit dem schlagkräftigen Titel:
Warum ich den Autor killte und andere Anekdoten aus dem Leben einer Literaturrezensentin.
Der Moment geht vorüber, und statt eines Mordanschlages knurre ich lediglich etwas Unverständliches.
»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwidert Glahnz. Der Applaus verstummt und mit ihm mein Bedürfnis, einen Mord zu begehen. Schwere Körperverletzung tut es auch.
»Frau Wilcek, als ein großer Bewunderer Ihres sozialkritischen Weblogs wollte ich es mir nicht nehmen lassen, Sie persönlich zu Ihrer Arbeit zu beglückwünschen. Ich darf nun Dr. Rudolf Jusits von der
W.R.I.T.E. Stiftung
begrüßen, der eine wichtige Ankündigung zu machen hat.«
Ein Mann mit Glatze und dicker Hornbrille tritt in einem braun karierten Anzug zu uns und begrüßt mich mit einem warmen Händedruck.
»Liebe Besucher dieser wunderbaren Lesung! Die
W.R.I.T.E.- Stiftung
hat es sich zur Aufgabe gemacht, Autoren herausragender Medienbeiträge einmal im Jahr mit dem Wiener Journalistenpreis auszuzeichnen. Prämiert werden Arbeiten, die beispielhaft die sozialen Zusammenhänge unserer Gesellschaft analysieren und sich für zwischenmenschliches Verständnis einsetzen.
Wir haben uns in diesem Jahr einstimmig dafür entschieden, die Auszeichnung im Bereich Online-Journalismus Frau Dorothy Wilcek für ihren Blog auf den Internetseiten des
Österreichboten
zu verleihen. Der Preis ist mit zehntausend Euro dotiert, den Scheck darf ich Ihnen hiermit überreichen. Außerdem würden wir Ihren Mauerblümchen-Blog in Zusammenarbeit mit dem Ljubek-Verlag gern als Buch herausbringen und hoffen, dass Sie unser diesbezügliches Angebot annehmen werden. Ich bedanke mich bei Florian Glahnz für die kurzfristige Organisation der Veranstaltung sowie bei Lady Lydia Rocksbridge, die uns ihr außergewöhnliches Lokal zur Verfügung gestellt hat.« Meine Mutter strahlt wie die Lichterkette über ihr. Ich selbst starre fassungslos auf den Scheck. Ist das jetzt Kopfkino oder echt?
»Am meisten danke ich aber Dorothy Wilcek für ihr großartiges journalistisches Engagement, mit dem sie uns alle in den vergangenen zwei Monaten begeistert hat.«
Dr. Jusits reicht mir eine Urkunde und schüttelt mir die Hand. Neuerlicher Jubel bricht aus, und das Blitzlicht mehrerer Fotografen blendet mich.
»Im Namen der
W.R.I.T.E. Stiftung
darf ich Sie nun herzlich einladen, mit uns ein Gläschen zu …«
Allgemeines Stühlerücken und Gemurmel. Vielleicht war alles doch nur ein besonders realistischer 3 D-Traum? Ich fange Sorinas Blick auf. Sie winkt mir mit erhobenem Daumen zu. Plötzlich rieche ich einen nicht unangenehmen Duft von Rasierwasser, spüre einen Arm auf der Schulter und augenblicklich die Hitze auf meinen Wangen, als ich in Florian Glahnz’ blaue Augen hinter den Brillengläsern sehe. Für einige Sekunden, die sich wie Stunden anfühlen, gelingt es mir nicht, woanders hinzuschauen. Schließlich, als würde eine andere Dotti mich fernsteuern, öffne ich den Mund und flüstere: »Es tut mir leid.«
Er nickt und lächelt. Kein Vorwurf wegen meines idiotischen Spotts, der Ignoranz und der hochmütigen Missachtung seiner Person. Stattdessen schweigt er, riecht gut, trägt kein Lipgloss, und
Weitere Kostenlose Bücher